Dürckheim 2. Abend

 
Fünf Stufen im initiatischen Entwicklungsprozess

 

Wir haben letztes Mal drei Begriffe von Karlfried Graf Dürckheim vorgestellt:

- Meditation als initiatische Übung 
- WESEN 
- Doppelter Ursprung des Menschen

 

Noch ein Bemerkung zu diesen Begriffen: Initiation heisst Einweihung. Und wenn man diesen Begriff verwendet, ist der Kontext dazu, dass man an einen kürzeren oder längeren rituellen Einweihungsprozess denkt, der dann am Ende mit einem Einweihungsritual schliesst. Die Formulierung "Initiatische Übung" hat einen etwas anderen Vorstellungsrahmen, nämlich, dass man sein Leben von einem bestimmten Zeitpunkt an als einen Einweihungsweg versteht, ein Einweihungsweg, der vielleicht Stufen hat, aber kein Endritual.

 

Heute geht es um die Stufen, die möglicherweise in diesem Prozess als Entwicklungsstufen identifiziert werden können. Dürckheim kommt zu fünf Stufen. Er geht aus von dem Gedanken: der Mensch hat einen doppelten Ursprung. Wie stark und wie weit und in welcher Gewichtung kommen diese beiden Ursprünge in einem Menschen zum Ausdruck? Schiebt mal der eine, mal der andere sich nach vorn? (Die folgenden Ausführungen nehmen z.T. wörtlich, z.T. kommentierend Bezug auf: Meditieren - wozu und wir, Seite 51ff, und: Vom doppelten Ursprung des Menschen, Seite 248ff)

 

Die beiden Pole, um die es geht, nennt er auch: sein "überweltliches Wesen". Das ist zumeist die verborgenere Realität eines Menschen. Die andere, offensichtliche,  nennt er sein "weltbezogenes Ich". In seinem überweltlichen Wesen ist der Mensch keinen irdischen Bedingungen unterworfen. In seinem weltbezogenen Ich ist er ganz und gar auf die Bedingungen der Welt bezogen und in sie eingebunden.

 

1. Stufe: das Ich als naiv-egozentrisches Welt-Ich

Im jungen, heranwachsenden Menschen tritt der himmlische Ursprung mehr oder weniger ganz in den Hintergrund.

 

Stellen wir uns einen jungen Menschen vor. Irgendwo gibt es den Übergang, wo er nicht mehr kindlich eingebunden ist in die Abläufe in der Familie, sondern sich seiner selbst bewusst wird. Er beginnt sich als eigenständig zu begreifen, als eine Person, die zunehmend selbst entscheiden kann und muss. Er erlebt, dass er von den Realitäten der Welt her in Anspruch genommen wird und sich ihnen zu stellen hat. Er muss der Welt gegenüber sich als "Ich" behaupten. – Möglicherweise mit all den Protestreaktionen, die wir von der Pubertät her kennen. Dürckheim sagt: Er entwickelt ein Welt-Ich. Es ist ein Ich, das in naiver Weise 

Sicherheit und lusterfülltes Behagen sucht 
und hierzu nach 
Besitz, Geltung und Macht verlangt.

 

Diese erste Stufe interpretiert Dürckheim als Abkehr von der Dimension des überweltlichen Wesens. Der Schwerpunkt in dieser Phase liegt auf dem Welt-Ich. Die Entwicklung dieses Ichs ist eine notwendige Stufe auf dem Weg zu einer weltkräftigen Person, und nichts ist verfehlter, als die Entwicklung eines kräftigen, auch egozentrischen Ichs im Kinde verhindern zu wollen.

 

2. Stufe: das Welt-Ich überwindet seine Egozentrik

Das Welt-Ich ist immer noch der Kern der Person, aber es kreist nicht mehr nur um sich selbst und die Erfüllung seiner Triebe. Die naive Egozentrik wird überwunden und das Welt-Ich wird fähig zum Dienst am Anderen, einer Sache, einem Menschen oder einer Gemeinschaft. Initiatisch gesehen ist diese Überwindung der Egozentrik eine erste Form von Transzendenz. Ein Hereinbrechen einer transzendenten Dimension in die Sphäre der natürlichen Triebe. Das kleine Ich wird überstiegen und der heranwachsende Mensch findet seine Bestimmung in selbstloser Hingabe an Mitmensch und Werk.

 

3. Stufe: Reifen auf dem inneren Weg

Es kommt eine weitere Aufgabe hinzu: Es geht nicht nur darum (in Dürckheims Sprache): Die Welt zu meistern und zu gestalten im Werk. Auch wenn oder gerade wenn die Arbeit in hervorragender und selbstloser Weise gelingt, kann es zu der Frage kommen: Ist denn das alles? Das Welt-Ich hat seine Welt und Arbeit und Beziehungen in hervorragender, sachlicher und selbstloser Weise geordnet.  Er hat Ansehen wegen dieser Sachlichkeit und Selbstlosigkeit gewonnen. Unserem jungen Mann widerfährt, dass ihm dies nicht reicht. Vielleicht ist es ein Schicksalsschlag, der dies auslöst. Er erlebt, dass das Leben ungerecht ist, dass das Leben ihm Leid zumutet. Oder dieses Gefühl, das Erreichte könne noch nicht alles sein, schleicht sich langsam bei ihm ein.

 

Die Aufgabe, die jetzt hinzukommt heißt: inneres ReifenZu reifen auf dem inneren Weg. Meditation ist eine mögliche Übung, diesen Reifeprozeß zu unterstützen, aber nicht die einzige.

 

Reifen erfüllt sich entscheidend erst im Durchbruch durch alle Ordnungen des Welt-Ichs zur Tiefe hin. Der heranwachsende Mensch beginnt seinen anderen Ursprung zu ahnen: sein überweltliches Wesen.  Diesen Punkt kann man im eigentlichen Sinn als initiatische Stufe bezeichnen. Die Erfahrung, die auf diesem Weg des Reifens gemacht werden, ist das Einströmen von Licht oder Energien.

Neu geboren werden als Kind des Himmels und der Erde. (doppelter Urspung, S. 249)

 

4. Stufe: Wesensentdeckung

Das in ihm aufgegangene göttliche Licht, zwingt den, der aus den Formen des Welt-Ichs heraus Erwachte, sich mit der Dunkelheit seiner Seele und mit allen Erscheinungsformen des Widersachers in der Welt auseinander zu setzen. Integration der "dunklen Welt" und Aushalten aller bisherigen Abspaltungen.

 

Übungen der Reinigung gehören hierher. Oder das uralte Gebet: 
Herr des Himmels und der Erde
Heilige und erneuere uns an Leib und Seele.

 

5. Stufe: Das Sein im Dasein bezeugen (doppelter Ursprung, S. 250)

Das Wesen wird zur sinngebenden Wurzelkraft des Welt-Ichs. Der himmlische Ursprung durchlichtet die irdische Person. Der Heranreifende wird zum Zeugen seines göttlichen Ursprungs oder seiner Verwurzelung in der Kraft der Tiefe. Der Erwachte wird zum Zeugen.

 

Dürckheim legt Wert darauf folgendes fest zu halten: Der initiatische Weg mündet für den christlichen Westen nicht im erlösenden All-Einen, sondern geht durch dieses hindurch. Er mündet letztlich ein in die "vom Ich-Bann befreite, zur ... Bezeugung ihres himmlischen Ursprungs befähigten Voll-Person." (Ursprung,. S. 250)

 

Diese fünf Stufen erscheinen im Entwicklungsprozeß nicht als einmalige Folge. Sie sind fünf Weisen der eigenen Existenz, die miteinander verflochten sind und wechselnd das Leben bestimmen. Mit einer Tendenz. Hoffentlich.

 

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