Die rechte Mitte II

 
Die rechte Mitte II

In unserem theoretischen Teil geht es heute erneut um die rechte Mitte. Das ist eine Formulierung von Karlfried Graf Dürckheim. Die Aufgabe des Menschen – so Dürckheim – ist letztendlich, für das Heilige in ihm selbst transparent zu werden, oder für die immanente Transzendenz transparent zu werden oder durchlässig zu werden zur eigenen Wesenstiefe hin. Und dieses "durchlässig werden" wird unterstützt oder drückt sich aus in der Haltung unseres Leibes. Genauer gesagt in der Frage, ob unser Schwerpunkt in der "rechten Mitte" angesiedelt ist. 

Wenn das sorgenvolle Ich die Vorherrschaft hat, sitzt der Schwerpunkt im Leib automatisch zu hoch. Der Mensch ist verspannt. Hochgezogene Schultern sind ein Signal dieser Art. Dazu hatten wir letztes Mal die Übung "jemandem die kalte Schulter zeigen" erkundet. 

Das Gegenteil wäre Gelassenheit. Bei wahrer Gelassenheit ist der Mensch in seiner wahren Mitte, nämlich verankert im Bauch-Beckenraum, dem HARA, wie es japanisch genannt wird. Oder umgekehrt: Wenn der Mensch im Hara verankert ist, dann ist er in seiner rechten Mitte, das heißt im Lot – körperlich und seelisch.

"Wer aber gelernt hat, seinen Schwerpunkt im Bauch-Beckenraum-Raum zu halten, findet hier eine Quelle außerordentlicher Kraft, eine Garantie unerschütterlichen Gleichgewichts und die Wurzel für eine ungehemmte Kontaktfähigkeit. Warum? Weil mit der Verankerung im Bauch-Becken-Raum von der Haltung her die im falschen Schwerpunkt verkörperte Dominanz des kleinen Ichs ausgeschaltet ist." (Karlfried Graf Dürckheim, Übung des Leibes auf dem inneren Weg, München 1978, S. 9-12)

Auch heute abend werden wir wieder diesen Zusammenhang von der rechten Haltung des Leibes und der Qualität der Tiefe erkunden.

Der Zusammenhang ist in unserer Tradition nicht unbekannt. Auf dem ausgeteilten Blatt finden Sie drei Christusdarstellungen.

 

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Maiestas Domini (Köln, erstes Viertel des 12. Jahrhunderts)
aus: Karlfried Graf Dürckheim, Übungen des Leibes, München 1978, S. 7

Christus auf der Himmelskugel (Trier, Ende 10. Jahrhundert
aus: Dürckheim, S. 10

Christus und der Versucher (Kathedrale von Plaimpied, Fankreich) 
aus: Dürckheim, S. 10

 

Bei allen dreien sind Bauch und Knie in erstaunlicher Weise betont. Es fehlt nicht viel, dass der Christus in Bild 1 wie ein Buddha sitzt. Lassen Sie ihn im Geist die Beine unterschlagen, dann ist die Form erreicht: Der Schwerpunkt ist unten. Der Oberkörper ist leicht. Die Schultern sind gelöst. Er sitzt wie ein Berg, was ja eine Meditationsanweisung aus der buddhistischen Tradition ist. Majestas Domini ist das Bild unterschrieben: Die Majestät des Herrn.

Die Merkmale wiederholen sich im Bild 2: Christus auf der Himmelskugel. Auch hier: Gelöste Schultern, ein energetischer Wirbel aus dem Bereich des Hara. Wieder ist auch das rechte Knie betont. Der Körper wirkt oben leicht und unten schwer und kraftvoll.

Und die gleichen Phänomene zeigen sich auch wieder in Bild 3: Christus und der Versucher. Diesmal ist es nicht ein entrückter, himmlischer Christus. Hier ist er in eine Auseinandersetzung verwickelt. Die dargestellt Szene ist eine Szene in der Wüste. Er ist herangereift; er ist ganz offensichtlich geistbegabt, er ist auf dem Wege zu einer großen spirituellen Persönlichkeit. Die Frage, was aus seinen Kräften und Begabungen werden soll, steht an. Und zur Klärung – wie viele Wüstenväter und Wüstenmütter vor ihm und nach ihm - zieht er sich für 40 Tage in die Wüste zurück. Retreat nennen wir das heute. Rückzug – Zeit der Reifung.

Jetzt kämpft er mit den Schatten. Der Versucher tritt an ihn heran, formuliert die Geschichte. Das ist im Bild die alte Schlage, Satan, der Drache. Und er wehrt ihn ab. Nicht mit dem Kopf. Nicht mit abwehrenden Händen, ihn nicht einmal mit den Augen fixierend. Die Abwehr geschieht dynamisch aus dem Bauch heraus. Wir werden diese Abwehrkraft gleich meditativ-übend erkunden. 

Was sagt das Bild in unserem theoretischen Ansatz? Die Versuchungen zielen auf das sorgenvolle Ich. Das Bild aber zeigt: Das sorgenvolle Welt-Ich ist nicht im Spiel. Die Kraft kommt aus innerer, "überweltlicher" Tiefe. Dieses Bild schildert den Durchbruch. Mag vorher noch ein sorgenvolles und zweifelndes Ich im Spiel gewesen sein, - mit dieser Szene ist der Durchbruch zur "Kraft der Tiefe" da.

Wir werden jetzt in dieses Bild einsteigen. Wer die so genannte Versuchungsgeschichte nachlesen will, finden sie im  Matthäus-Evangelium im vierten Kapitel, und er wird dort auf eine Auseinandersetzung treffen, die mit vielen Zitaten aus den alten heiligen Schriften geführt wird. Es ist jetzt nicht der Ort, auf die einzelnen Versuchungen einzugehen. Alle Versuchungen zielen auf das kleine Ich: Oder es sind die Phantasien der kleinen Ichs: Wenn ich den geistbegabt bin, was könnte ich alles für mich tun?....
Das tägliche Brot herbei schaffen – kein Problem.
Sicherheit – kein Problem.
Macht – kein Problem.
Am Ende verspricht der Versucher alle Reiche und alle Herrlichkeit der Welt, wenn der Meditierende ihn anbeten würde… Und die Erzählung endet damit, dass der Meditierende zum Meister wird und sagt: "Weg mit dir Satan." Und als das klar und gesagt ist, da, so heißt es, "verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel zu ihm und dienten ihm."

 

Meditationsanleitung:
Wir suchen uns eines der Bilder aus (das 1. oder 3.).

Wir finden unseren Meditationssitz.
Wir lassen uns innerlich sinken..
Unser Atem unterstützt diese Bewegung: 
Mit dem Ausatmen lassen wir uns sinken. 
Mit dem Einatmen werden wir weit. 

Vor unserem inneren Augen entsteht das ausgewählte Bild. 
Und wir erlauben uns, uns zu ihm hin zu öffnen. 
Wir spüren in das Bild hinein und erlauben der Kraft, die von ihm ausgeht, bei uns Resonanz zu finden.

Nichts weiter ist zu tun. Nur wahrnehmen. 
Wie fühlt sich die Schwingung, die Kraft des Bildes an. Was löst sie bei mir aus?

Und wenn das Bild verblasst, so sei es in Ordnung. 
Dann lassen wir zu, dass wir aus dem Visualisieren in das Sitzen in der Stille hinübergleiten.
 

 

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