Hunter Beaumont: Psychotherapie und Spiritualität

tl_files/images/Veranstaltungen-Bilder115x77/Goldenberg_Biene.jpgDer Text ist eine von mir (Volker Schmidt) gekürzte und geringfügig redigierte Abschrift der im Handel erhältlichen Hör-CD mit gleichnamigem Titel. Eine ähnliche Fassung des Vortrages ist veröffentlicht in: Hunter Beaumont, Auf die Seele schauen, Spirituelle Psychotherapie, Kösel Verlag, München 5. Auflage 2011, Seite 119

Hunter Beaumont (*1943) war Präsident des Gestalttherapie Instituts von Los Angeles, bevor er 1980 als Gastprofessor für klinische Psychologie nach München kam. Seine Vorträge und Veröffentlichungen beschäftigen sich sowohl mit klinischen psychotherapeutischen Fragen, als auch mit der Begegnung von Psychotherapie und Spiritualität.

 

 

Psychotherapie und Spiritualität

 

Wenn wir einmal davon ausgehen, dass wir ernsthaft einen spirituellen Weg beschreiten, was kann die Psychotherapie hier anbieten, wenn überhaupt etwas? Das ist die Frage. Kann die Psychotherapie das, was ihr schon macht, irgendwie ergänzen oder unterstützen? Oder ist diese westliche, wissenschaftlich verwurzelte Sichtweise irrelevant? Ich möchte behaupten, dass sie nicht irrelevant ist. Dass die Welt, die die Spiritualität und die Psychotherapie anschauen, letztendlich nur eine Welt ist, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet wird. Durch die unterschiedlichen Betrachtungsweisen entstehen schon etwas unterschiedliche Eindrücke, die dann einander durch ihre Unterschiedlichkeit ergänzen oder vielleicht sogar korrigieren können. Der Anfangspunkt, d.h. die Situation, in der wir uns befinden, ist sowohl für die Psychotherapie als auch für die Spiritualität derselbe. Wir finden uns verloren in der Welt. Wir spüren: Irgendetwas ist nicht in Ordnung, irgendetwas fehlt. Und wir wollen dort hin, manche sagen: wieder nach Hause. Das zu verstehen und diesen Weg zurück zu dem zu unterstützen, was wir sind, ist sowohl die Aufgabe der Psychologie als auch die der Spiritualität.

 

Der Weg zum Wesentlichen - jenseits der Verstrickungen

 

Ich möchte euch auf eine Grunderfahrung aufmerksam machen, die wir alle, glaube ich, erlebt haben. Diese Grunderfahrung dient als Metapher, um das zu beschreiben, was ich mit euch besprechen will. Ich lade euch ein, euch daran zu erinnern, was geschieht, wenn ein neu geborenes Baby euch in den Arm gelegt wird. Man nimmt das Baby in den Arm, schaut es an und auch bei einer sehr verbitterten alten Tante – wenn ich einmal so sagen darf –  geht das Licht auf. Ist das nicht so? Das heißt, das Baby hat eine Kraft, in die Seele des Erwachsenen hineinzugreifen und etwas zu berühren, so dass mindestens für einen kurzen Moment das Licht strahlt, die Liebe fließt und die Welt kommt in Ordnung. Und dann im Lauf der nächsten Jahre verliert das Baby diese Kraft. Wir befinden uns dann ohne das Licht, ohne die Kraft, es bei anderen zu erwecken, in einer Welt, die manchmal verrückt erscheint. Die Frage, mit der wir uns direkt oder indirekt befassen, ist: Wo ist das Licht hin gegangen? Wie ist es passiert, dass wir es verloren haben? Haben wir es wirklich verloren? Und gibt es irgendetwas, das wir tun können, um das Licht wieder zu finden? Viele von uns haben als Kinder Erfahrungen gemacht, vielleicht in der Natur, wo das Licht oder wo diese Empfindung oder diese Präsenz wieder spürbar war. Für einen kurzen Moment oder für eine kurze Phase im Leben. Kennt ihr das? Vielleicht in den Bergen. Auf einmal ist es da. Und die, die das Glück oder Unglück gehabt haben, sich verliebt zu haben, erkennen im Gesicht des Geliebten auch das Licht. Nur im Zustand der Verliebtheit lässt sich das mit der Alltagsrealität manchmal schwer vereinbaren. Doch ich behaupte: Das Licht, das man in der Verliebtheit erkennt, ist echt. Nur schwer einzuordnen durch die Verstrickung der Welt. Und später, wenn man Glück hat, erkennt man das Licht wieder in der Präsenz eines echten Meisters. Daraus ist zu schließen, dass das Licht nicht weg ist. Es ist nicht verloren, wir haben nur Zugang zu ihm verloren. Und die Psychotherapie hat im Gegensatz zu den spirituellen Traditionen, die mir bekannt sind, in den letzten 100 Jahren ein relativ präzises Verständnis davon entwickelt, wie das Licht bei einem neu geboren Baby in den Jahren der Entwicklung verloren geht. Wenn man versteht, wie das passiert, dann hat man laut psychotherapeutischer Behauptung eine bessere Chance, den Prozess rückgängig zu machen, bis man wieder an diese Fähigkeit herankommt. Ab diesem Punkt erkennt dann die Psychotherapie ihre Grenzen und es wird dann die Arbeit des Meisters oder des Lehrers sein, den Schülern zu unterstützen, wie er oder sie mit dem neu gefundenen Licht oder der Präsenz umgeht.

 

Ich möchte aus psychotherapeutischer Perspektive schildern, was passiert, und bitte die Profis, die hier auch unter den Zuhörern sind, um Entschuldigung, weil ich ein paar vielleicht unverschämte Vereinfachungen bringen werde. Ich gehe davon aus, und es wird in zahlreichen Therapien bestätigt, dass Babies vielleicht sogar in utero an der Erfahrung der Mutter und der Umwelt teilhaben. Um das ein bisschen zu erforschen, lade ich euch ein, eine kleine Phantasiereise zu machen. Ich lade euch ein, euch darauf zu besinnen, wie das war, ein Kind zu sein, vielleicht so mit drei Jahren, und zu versuchen, sich mit dieser kindlichen Fähigkeit in das Herz der Mutter hinein zu fühlen, oder in das Herz des Vaters, und zu versuchen, auf diese Weise zu spüren: Was war mit ihm los? Sehr viele Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, haben erkennen können, dass sie sehr viel von der inneren Welt der Eltern und der der Verwandten mitbekommen haben, ohne es bemerkt zu haben. Und weil die Lebenserfahrung eines Kindes relativ eingeschränkt ist, haben sie große Schwierigkeiten gehabt, das, was sie dort im Herzen der Mutter gefunden haben, in ein angemessenes Weltbild einzuordnen. Das Kind deutet die Freude der Mutter, das Leiden der Mutter, die Unzufriedenheit, die Ängste der Mutter nicht gegen einen Erwachsenenhintergrund, sondern gegen ein kindliches Verständnis von der Welt.

 

Ich hoffe, dass das, was ich beschreiben will, spürbar ist. Es wird eine wichtige Komponente meines Arguments sein, dass wir als Kleinkinder diese Intuition haben oder dieses Einfühlvermögen oder wie man das auch nennen will, - eine Wahrnehmung haben für das, was im Inneren des anderen geschieht. Ist das nachvollziehbar? Und wenn wir das als Kleinkinder machen, dann treffen wir im Herzen der Mutter oder des Vaters auf einen Schmerz, auf eine Unzufriedenheit. Wir treffen auf eine Stelle, wo die Seele der Mutter sich durch Enttäuschungen oder durch Scheitern im Leben oder vielleicht durch Unglück in der Beziehung geschlossen hat. Aus dem Herzen heraus tasten wir im Innere der Mutter ab: Bist du da? Liebst du mich? Bin ich in Ordnung? Und wir treffen auf eine Stelle, wo es zu ist, fühlen uns nicht willkommen, fühlen uns nicht verstanden. Und irgendetwas zieht sich in uns zurück und macht zu. Ist das spürbar? Das ist keine Kritik an der Mutter und das ist keine Kritik am Vater. Sie sind auch Menschen, die einen Weg gegangen sind. Was wir dort antreffen, ist nur die Verstrickung der Welt. Es ist kein persönliches Scheitern der Mutter, keine persönliche Unvollkommenheit des Vaters. Es ist keine Schuldzuweisung. Nur früher oder später trifft diese unbelastete Seele des Kindes auf eine Stelle in der Seele, wo es zu ist. Und das Kind kann das nicht begreifen. Wie soll ein Kind, vielleicht sogar ein Kind, das noch nicht Sprache hat, das verstehen? Und was geschieht, ist, dass diese Seele oder wie man das nennen will, sich zurückzieht und über die Jahre zumacht. Durch diese Erfahrungen entsteht im Zuge der Zeit eine äußere Persönlichkeit, die wir das Ego nennen, entsteht so etwas wie ein falsches Selbst, ein Selbstbild. Und wenn wir dann sagen "Ich bin…" oder "Ich tue…" oder "Ich denke…", sprechen wir nicht von dem, was sich zurückgezogen hat, sondern wir sprechen von dem, was wir geworden sind, als wäre das unsere Ganzheit. Und wir identifizieren uns damit. Wenn diese falsche, aufgesetzte Persönlichkeit dann später in Frage gestellt wird, erleben wir dieses In-Frage-Stellen als bedrohlich, als wäre diese Persönlichkeit das, was wir wirklich sind. Das ist sie aber nicht. Sie ist nur das, was wir im Laufe der Jahre in Abwesenheit des Zurückgezogenen entwickelt haben.

 

Die meisten Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, berichten von Momenten in Freundschaften und in Partnerschaften und in Liebschaften, in denen sich das, was sich zurückgezogen hat, wieder öffnet, manchmal für kurze Momente. Und dann kommen oft Enttäuschungen, weil das, was die Seele erwartet, eigentlich eine Idealmutter ist, die nichts anderes zu tun hat, als für mich immer da zu sein, eine ideale Mutter, die selbst keine Verstrickungen hat, keine Verletzungen. Und das gibt es nicht.

 

In der Psyche entsteht eine Leere, wenn man merkt, ich bin nicht das, was ich dachte, das ich bin. Sondern ich bin etwas Anderes. Diese äußere Persönlichkeit oder das Ego, das wir aufgebaut haben und mit dem wir uns identifizieren, fängt früher oder später an zu bröckeln. Und das ist Sinn der Sache. Aber dadurch, dass wir uns mit der äußereren Persönlichkeit identifiziert haben, wirkt das Bröckeln gefährlich und bedrohlich. Es stellt sich in der Seele die Frage: Wenn ich nicht das bin, was ich dachte, wer bin ich dann? Aus spiritueller Sicht ist diese Frage natürlich hervorragend. Genau das, was nötig ist, um sich von dem Ego zu dis-identifizieren. Nur wirkt das Bröckeln in der Seele sehr bedrohlich und beängstigend. Die Psychotherapie hat Methoden entwickelt, diesen ganzen Prozess zu unterstützen und zu verstehen, die die traditionellen spirituellen Methoden gut ergänzen. Die Betonung in der Psychotherapie liegt immer auf dem Leben in der Welt. Wie geht man damit um in der Beziehung, wie geht man damit um auf dem Arbeitsplatz? Die psychotherapeutische Sichtweise hilft uns zu differenzieren. Das, was wir bekämpfen wollen, ist nicht die Welt, nicht die Erde, nicht die Natur, sondern das von Menschen Erschaffene. Die Welt als Konstrukt des Menschen, die Welt als Ego, die Verstrickungen, die Unvollkommenheiten, die dürfen wir bekämpfen. Aber die Welt als Erde, die Welt als echte Mutter, die dürfen wir nicht bekämpfen. Da dürfen wir uns nur fügen.

 

Es stellt sich in der Therapie die Frage: Wer ist meine Mutter und wer ist mein Vater? Denn wenn ich die Frage stelle "Wer bin ich?", stelle ich impliziert auch die Frage "Wer ist meine Mutter und wer ist mein Vater?" Es gibt eine große Neigung zu sagen: Meine Mutter war für mich nicht da oder mein Vater war so ein Idiot. Der hat nur meine Mutter beschimpft oder war ein Säufer oder so etwas. Ist das der Vater? Ist das die Mutter? Das ist die Verstrickung des Vaters, die da beschrieben wird. Das ist die Verstrickung der Mutter, die da beschrieben wird. Aber ist das die Mutter, die zählt? Ist das der Vater, der zählt? Ich kenne Leute, die diese Fragen beantworten würden: Ja, das ist meine Mutter, natürlich. Aber wenn man die Frage so beantwortet, was ist davon die Wirkung in der Seele? Ist es nicht so, dass man dann stecken bleibt? Kann man den spirituellen Weg wirklich ernsthaft begehen, wenn man diese Fragen beantwortet: Ja, dieser verstrickte Idiot, das ist mein Vater. Oder: Ja, diese unvollkommene Abwesende, das ist meine Mutter. Kann man den spirituellen Weg so begehen? Nein, kann man nicht. Der Vater, der zählt, die Mutter, die zählt, sind die wesentliche Mutter, der wesentliche Vater. Der Vater, der Mensch, der der Vater gerne geworden wäre, wenn er ein anderes Schicksal gehabt hätte, wenn er auch die Freiheit gehabt hätte und das Glück, einen spirituellen Weg der Reinigung zu begehen, das ist der Vater, der zählt. Das ist die Mutter, die zählt. Und wenn ich sie finden kann hinter ihrer eigenen Verstrickung, wenn ich soweit bin, dass meine Seele trotz dem Ganzen, was mir im Leben passiert ist, durchdringt und das erreicht, was in ihrem Herzen wirklich ist, wenn ich das finde, dann ist für mich auf einmal eine Kraft da. Dann ist auf einmal die Freiheit da, das, was sich geschlossen hat, zu öffnen. Das ist ein Punkt, wo die psychotherapeutischen Anstrebungen und die spirituellen Anstrebungen einander sehr nahe sind, dass wir uns von den Verstrickungen befreien und den Weg zum Wesentlichen jenseits der Verstrickungen finden.

 

Das Über-Ich

 

Einen zweiten Punkt, an dem die Psychotherapie uns behilflich sein kann, ist das Verständnis oder das Konzept vom Über-Ich. Die Unterscheidung zwischen einer spirituellen Disziplin, die unentbehrlich ist für den Weg, und einem selbst bestrafenden, fast sadistischen, selbst manipulierenden, selbst aufblasenden Über-Ich ist entscheidend. Man kann sagen: Gut, ich nehme mir vor, jeden Tag zu meditieren. Und man kann den Unterschied merken, wenn man genau hinschaut: Mit welchem Tonfall sage ich mir das im Kopf. Mit welcher Schwingung in der Stimme? Ist das eine liebevolle Stimme, die mir sagt: Ich nehme es mir vor, jeden Tag zu meditieren? Oder ist in der Stimme etwas Bezwingendes, etwas Gewalttätiges? Und wenn ich dann meditiere, obwohl die Stimme, die mir das verordnet hat, eine gewalttätige ist, ist die Wirkung nicht die spirituelle Befreiung durch die Meditation, sondern die Vergrößerung der Macht des Über-Ichs. Von daher kann unter Umständen das Meditieren genauso gut die Verstrickung verstärken, als dass es die Befreiung aus der Verstrickung unterstützt. Wir kennen alle vielleicht am eigenen Selbst, zumindest aber kennen wir im Freundeskreis einige Leute, die den spirituellen Weg beschreiten, und da ist in der Seele so eine Enge, so ein Angespannt-Sein, fast eine Verbitterung. Sie machen ganz konsequent die Übungen. Aber die Wirkung in der Seele, wenn man das aus psychotherapeutischer Sicht betrachtet, ist nicht eine Lockerung, nicht eine  Öffnung, nicht eine zunehmende Liebe und zunehmendes Leben, sondern eine Strenge, ein Festgebrannt-Sein, eine Verbitterung. Ich spreche davon, weil ich mich aus persönlicher Erfahrung in diesem Bereich gut auskenne. Ich habe mir, wenn ich etwas Persönliches sprechen darf, über die Jahre sehr viel weh getan – im Namen des Guten.

 

Wenn ich mich an dem Inhalt orientiere, erscheint es klar: Viel zu meditieren oder eine Diät streng einzuhalten, das ist gut. Das scheint klar zu sein. Aber wenn ich mich nur an dem Inhalt orientiere, habe ich keinen Schutz vor diesem Über-Ich. Weil es lügt. Wenn ich mich aber an der Wirkung in meiner Seele orientiere, dann kann ich oft unterscheiden, ob das, was ich mir vorgenommen habe, wirklich zu der notwendigen spirituellen Disziplin beiträgt oder nur zu diesem Welt-Hass, diesem Hass des Lebens. Und manchmal – das kennen wir alle – sind die besonders Frommen die gefährlichen. Es ist meine persönliche Erfahrung: Es gibt diesen Faden in mir, der sehr fromm ist und sehr streng und der, wenn ich Fehler gemacht habe in meinem Leben, mich viel, viel strenger bestraft hat, als das, was meine Kollegen oder Verwandten mit mir gemacht haben.

 

Den spirituellen Weg erfolgreich zu beschreiten, setzt voraus, dass wir lernen zu unterscheiden zwischen dieser Disziplin, die mich an der Sache dran hält, aber mit Liebe, und dieser harten, zwanghaften, gewalttätigen Selbst-Manipulation, die mich aus Ehrgeiz und Hass zu etwas zwingt, das noch nicht wirklich in meiner Seele sitzt. Die Spiritualität, die ich liebe, liebt die Welt. Sie liebt die Erde, sie liebt die Liebe. Sie liebt das Leben und alles, was gegen das Leben wirkt, ist nach meiner Betrachtungsweise nicht spirituell. Wir müssen lernen, – und die Psychotherapie kann uns dabei behilflich sein – ganz konsequent zu unterscheiden: Ist diese Stimme in meinem Kopf, die mich begleitet, Stimme der Sehnsucht meines Herzens nach Leben und nach meinem eigenen Wesen oder ist sie eine übernommene Stimme aus der Gesellschaft, die eigentlich lebensfeindlich in meiner Seele wirkt. Und wenn ich auf dem Kissen sitze, sitze ich auf dem Kissen, weil diese selbst manipulierende Stimme mich dazu befiehlt,- aber mit Hass? Oder sitze ich auf dem Kissen, weil ich den Moment des Seins und mein Wesen liebe? Das ist mit einer absoluten, tadellosen Ehrlichkeit immer wieder zu fragen. Die Therapie bietet uns eine ziemlich präzise und sehr wirkungsvolle Technologie an, die Anmaßungen des Über-Ichs zu bekämpfen.

 

Wir können nicht ohne Über-Ich leben. Davon ausgegangen, dass wir den Kontakt zu dem verloren haben, das sich geschlossen hat, haben wir kein internes Kriterium, an dem wir messen können, was gut ist, was stimmig ist und was nicht. Wir brauchen dann als vorrübergehende Krücke die Werte unserer Umgebung, unserer Gesellschaft, unserer Sozialisierung. Das ist die Stimme des Über-Ichs. Wir brauchen das Über-Ich. Aber genauso wie es zu Unordnung kommt, wenn die Polizei die Stadt regiert, statt dem Volk zu dienen, so ist es, wenn das Über-Ich den Anspruch der Führung meiner Ganzheit an sich zieht und tut, als ob es wüsste, was für mich am besten ist. Das weiß es aber nicht. Die angemessene Funktion des Über-Ichs ist nur eine beratende, nicht eine führende. Es muss manchmal hart gekämpft werden, bevor ich es zurück auf seinen Platz gewiesen habe. Nicht weil ich es vernichten will oder ohne Über-Ich leben will, sondern weil es diese Führungsansprüche aufgeben muss. Bei mir und auch bei vielen anderen, mit denen ich gearbeitet habe, ist das Über-Ich ein verwöhnter, fauler, aufgeblasener Diktator, der sich sehr an die Macht gewöhnt hat und sie ungern aufgibt. So wie in der Politik.

 

Der Stolz

 

Die Bekämpfung des Stolzes ist natürlich ein wichtiger Anteil des spirituellen Weges. Und auch hier kann die Psychotherapie dazu beitragen, zu unterscheiden zwischen dem Stolz der eigentlich Stolz um das Leben ist, und dem Stolz, der nur das Ich aufrecht hält und ernährt. Interessanterweise haben Lob und Tadel auf die Seele dieselbe Wirkung. Wenn ich gelobt oder getadelt werden, verlagert sich die Stelle, an der ich messe, was für  mich stimmig ist, von innen nach außen. Und insofern, als die psychotherapeutische Aufgabe und spirituelle Aufgabe damit zu tun haben, dass das, was sich in der Kindheit zugemacht hat, wieder aufgeht, muss ich lernen zu unterscheiden zwischen dem Tadel und dem Lob, die dieses Aufgehen ernähren, unterstützen, und dem Lob und Tadel, die dazu dienen, dass es sich noch weiter zurückzieht und dass das Ich sich aufbläht. Man kann es manchmal an der Körperbewegung erkennen. Wenn man einen großen Erfolg hat, wirklich etwas Gutes zustande gebracht hat und dafür gelobt wird, kommt manchmal unbeabsichtigt und ungewollt eine Bewegung in den Körper. Man geht einfach so… (das Publikum lacht). Aber die Bewegung, wenn man ihr genau nachspürt, tut nicht gut. Sie macht etwas unten im Rücken zu. Und man kann nicht gut atmen, wenn man so aufgeblasen ist. Und dann gibt es eine andere Bewegung, wenn man begreift, dass diese aufgeblasene Bewegung schlecht ist. Dann versucht man es anders. Und dann sitzt man da mit einer Art falscher Bescheidenheit. Und diese falsche Bescheidenheit nennt man den spirituellen Stolz. (Klatschen und Lachen) Aber auch hier gilt dasselbe Prinzip. Die echte Spiritualität und die gute Therapie haben gemeinsam die Liebe zur Wahrheit, die Liebe zu Sachen, wie sie sind. Es ist nicht unsere Aufgabe, die Welt zu ändern. Das ist zu groß. Das ist in den Händen Gottes. Unsere Aufgabe ist, die Welt, so wie sie ist, zu erkennen. Aber nicht die verstrickte Welt. Die Verstrickungen sind menscheneigene. Wir haben sie selbst konstruiert. Und daran dürfen wir schon basteln. Nicht an der Schöpfung Gottes. Das ist nicht unsere Sache. Und dieser Stolz, diese sogenannte narzisstische Aufgeblasenheit, das ist auch menscheneigen. Die kommt nicht aus dem Gefühl heraus, dass Gott mich liebt, so wie ich bin, dass ich existiere auf diesem Planten, weil er mich haben will oder sie mich haben will. Dieser Stolz kommt aus dem Gefühl heraus, dass andere sehen sollen, wie toll ich bin. Aber wenn wir dahinein schauen, sehen wir im Kern auch dieses Stolzes etwas Authentisches. Wir sehen die Sehnsucht dessen, was sich geschlossen hat, gesehen zu werden, berührt zu werden, gehört zu werden, damit es sich wieder aufmacht. Es muss irgendetwas in der Welt geben, einen Menschen, der in der Lage ist, das, was in mir ist, so lange zu lieben und zu sehen, bis es sich wieder aufmacht. Ein Sufi-Meister hat mir gesagt: Der Meister ist der Mensch, der dich so lange liebt, bis du dich selbst lieben kannst. Solange lieben, bis das wieder aufgehen kann. Und das wieder Aufgehen ist ein Körpergefühl. Das ist nicht eine Idee und es ist nicht ein Konzept. Man spürt es: Es geht auf. Man spürt dieses Aufgehen in Momenten von Intimität – gut, o.k.

 

Das Baby also zieht sich zurück. Der Schmerz des Nicht-Ankommens ist unerträglich für ein Baby. Und das Ich baut sich auf. Und wir kommen dann alle in den fast armseligen Zustand, dass es nur ein bisschen aufgeht, wenn jemand uns sieht, wenn unser Partner uns versteht. Wenn unsere Kinder merken, was wir für sie getan haben. D.h.: Wir sind mindestens ein Stück weit auf dieses Gesehen-werden angewiesen. Damit es aufgeht. Damit wir in der Seele leben können. Und in dieser Abhängigkeit kommen wir natürlich unter Druck, das zu machen, was den anderen gefällt. Ein Leistungszwang. Wenn man genau hinschaut, dann sieht man, dass hinter diesem Leistungszwang eine riesige Furcht steckt, dass, wenn ich den anderen nicht dazu bringe, mich anzuerkennen, dass dann diese Anerkennung nicht kommt. Dann geht das bei mir nicht auf und dann bin ich hoffnungslos verloren. Ist das nachvollziehbar, wie ich das beschreibe?

 

Aber das Echte auch in dieser sogenannten narzisstischen Haltung ist, dass das, was sich zu gemacht hat, aufgehen will. Es ist nur bei ganz beschädigten Menschen so, dass sie ganz vergessen, was sie sind. Und vielleicht ist es auch bei ihnen nicht so. Aber die meisten Menschen, mit denen ich zu tun habe, erinnern sich irgendwann daran, wie es sich anfühlt, wenn dieses aufgeht. Wenn das Ich sich weich gemacht hat und Platz machen kann, sodass das aufgeht. Die Psychotherapie bietet sehr präzise Techniken an, die Kommunikation mit anderen Menschen zu verbessern, zu unterscheiden zwischen dem, was wir als Projektion oder Übertragung kennen, und der Wahrnehmung. Es ist ein großes Problem auch bei spirituellen Menschen: Wenn dieses zu ist, dann ist es für mich wahrscheinlich auch nicht möglich, andere Menschen zu sehen, so wie sie sind. Zu spüren, wie sie sind. Und weil ich sie nicht spüren kann und weil ich die Wirklichkeit nicht spüren kann, bin ich meinen Überzeugungen und meinem Glauben ausgeliefert. Ich habe dann kein Kriterium, das mir hilft, aus dieser selbst erschaffenen Welt auszubrechen. Das ist ein Teufelskreis. Je mehr ich auf die Anerkennung meiner Bezugsgruppe angewiesen bin, desto weniger kann ich wahrnehmen, wie ich mich von denen unterscheide. Wenn das nicht aufgeht, dann gibt es keinen Platz für mich, auf dem ich stehen kann und sagen kann: O.k., gut. Aber ich bin anders als du. Auch wenn das bedeutet, dass wir auseinander gehen.

 

Wenn das aufgeht und man etwas macht und die Konsequenzen davon leben muss, kann man im Nachhinein zu dem stehen, was man gemacht hat. Weil es gestimmt hat. Aber wir kennen alle die Erfahrung, dass wir etwas gemacht haben, und danach schauen wir das an und merken: Es hat nicht gestimmt. Wir stehen nicht dazu. Kennt ihr das? Das sind die Erfahrungen, die am schmerzlichsten sind. Es sind aber Erfahrungen, die sehr hilfreich sind, wenn man die Wahrheit liebt. Weil man gerade aus diesen Erfahrungen gut lernen kann, wie ich zwischen dem unterscheide, was mein Ego will oder mein falsches Selbst, und dem, was für mich stimmig ist?

 

Schluss

 

Zum Schluss möchte ich noch einmal meine Überzeugung beschreiben, dass das Sein oder die Wirklichkeit, die eine echte Spiritualität liebt, und die Wirklichkeit, die eine echte Psychotherapie liebt, letztendlich dieselben sind. Es gibt nur eine Welt. Und die Aufteilungen der Welt sind nicht eine Eigenschaft der Welt, sondern eine Auswirkung der menschlichen Betrachtung.

Das Ideal, woran ich mich als Therapeut und auch auf meinem spirituellen Weg orientiere, ist das Ideal der Liebe zu dem, was wirkt, jenseits von meinen Überzeugungen, von meinem Glauben und von dem,was meine Gesellschaft von mir verlangt. Wenn es mir gelingt, und ich möchte klar sagen, dass das mir nur punktuell gelingt, dann überflutet mich manchmal ein Gefühl von Dankbarkeit. Nennen wir es einmal so. Und in so einem Moment ist die Dankbarkeit da als Qualität des Seins: Ich bin nicht dankbar. Ich bin keinem Menschen dankbar in so einem Moment. Nur die Dankbarkeit ist da. Ich spüre nur Dankbarkeit. Oder Hoffnung. Und ich kann auch nicht sagen: Das ist ein spiritueller Zustand. Ich weiß es nicht. Aber wenn die Dankbarkeit da ist und ich nicht, geht es mir sau gut. (Lachen. Klatschen)

 

Nachträge aus der anschließenden Fragerunde

 

1. Das Defizit-Modell: Ich habe in der Kindheit zu wenig bekommen

 

Die Therapien, die ohne spirituelle Unterstützung gemacht werden, scheitern oft an diesem Punkt. Das ist eine Stelle, wo die Spiritualität eine Kritik an der Psychotherapie anbietet. Dieses Defizitmodell in der Psychotherapie ist tödlich. Man kann mit diesem Denkmodell nur in der Sackgasse landen und dort stecken bleiben. Es ist nicht so, dass das Modell falsch ist. Es beschreibt eine Wirklichkeit. Nur: Es beschreibt die Wirklichkeit auf eine Weise, die keine gute Wirkung haben kann. In dem Moment, in dem mein Klient denkt "Ich habe ein Defizit; es ist irgendetwas mit mir falsch, weil meine Eltern mich so und so behandelt haben", ist er verloren. Vorübergehend verloren. Mit diesem Gedanken kommt er nicht weiter. Sie haben auch Recht, wenn Sie sagen, dass es nicht ausreicht, die Verstrickungen meiner Eltern mit dem Kopf zu verstehen. Was verlang wird, ist noch schwieriger. Was hilft, liegt noch tiefer. Ein Kind darf seinen Eltern nicht verzeihen. Es könnte ihnen nur verzeihen, nachdem es sie verurteilt hat. Das geht nicht. Das hat keine gute Wirkung. Das liegt zwischen den Eltern und Gott. Und ein Kind darf sich an dieser Stelle nicht einmischen, weder mit Tadel gegenüber den Eltern, noch mit Lob oder mit Verzeihen. Wer sich aus diesem Defizit befreien will, muss die Bewegung zum Inneren hin machen. Ich erlebe die Bewegung als eine Bewegung nach innen und nach unten gleichzeitig. Ich komme vom Kopf weg und es geht in diesen inneren Bereich hinein. Wenn ich meine Eltern von diesem Bereich aus betrachte, dann geht es weder um Vorwürfe noch um Verzeihen, sondern ich sehe nur das Sein. Wenn ich das Sein sehe, dann habe ich nichts mehr mit ihnen zu klären. Und wenn ich in dem Zustand bin, habe ich kein Defizit. Viele, viele Patienten halten an einem Defizit fest, weil sie diesen Schritt noch nicht machen können oder noch nicht machen wollen. Und hier ist eine Stelle, wo die spirituelle Arbeit wichtige Kritik an der Psychotherapie bringt und Ergänzung.

 

2. Sollen die Eltern sich entschuldigen?

 

Solange ich meine: Ich hasse meine Eltern, hasse ich mein eigenes Leben. Die Ebene auf der ich meine Eltern anschaue und denken kann "Ich hasse euch", ist die Ebene der Illusion. Das ist ein menschliches Konstrukt. Und es geht in der Tat darum, diese Ebene endgültig zu verlassen. Nur der Prozess, durch den das geschieht, ist nicht ein Durchbruch einmal für immer, sonder ist eine sehr mühsame Sache. Immer wieder die Sache umkreisen, immer wieder an dieselbe Stelle zurück kommen. Manche sprechen jetzt statt von Metamorphose von "Metabolieren" der Verstrickungen. Die Verstrickung wird metaboliert, verdaut. Einfach immer wieder Durchkauen, von dieser Seiter anschauen und von der anderen Seite anschauen.

 

3. Brauchen wir wirklich das Über-Ich?

 

Ich sehe eine Gefahr darin, dass wir das Über-ich zum Feind erklären. Das möchte ich vermeiden. Wir brauchen das Über-Ich in der ersten Phase des Weges, bis wir ausreichend Kontakt zu der inneren Wahrheit gewonnen haben. In dieser Anfangssituation, in der wir uns alle befinden, erleben wir Konflikte zwischen der Zugehörigkeit zu unserer Bezugsgruppe in der verstrickten Welt und unserer Loyalität zum Sein. Und die meisten von uns haben, um sich der Bezugsgruppe anzupassen, den Kontakt zur inneren Wahrheit abgebrochen. In dieser Phase haben wir keine Orientierung mehr über das, was gut ist und was schlecht ist. Wir passen uns den Werten unserer Bezugsgruppe an. Der Weg darüber hinaus, uns zu befreien, ist ein sehr schmerzhafter Weg. Denn er macht uns schuldig. Und diese Schuld der Bezugsgruppe gegenüber ist unausweichlich. Aber die übernommene Moral sagt wenig darüber aus, was in einem größeren Zusammenhang gut ist oder schlecht oder böse.