Turiya - der Zeuge

TURIYA - DER ZEUGE

aus

Wilber, Ken. Integrale Meditation. Wachsen, erwachen und innerlich frei werden. München 2017: O. W. Barth Verlag. Seite 131ff

 

Wir beginnen mit dem Zeuge-Bewusstsein, dem vierten Hauptzustand. Das Sanskritwort turiya bedeutet »das Vierte« und bezeichnet einfach den vierten Zustand nach grob-stofflich, subtil und kausal. Das so Bezeichnete gibt es jedoch unter anderen Namen überall, vom Christusbewusstsein über Plotins Nous bis zum Purusha der Yoga-Philosophie.

 

Setzen Sie sich also jetzt bequem hin, entspannen Sie sich innerlich und machen Sie sich bewusst, was Sie gerade als Ihr Ich empfinden. Vergegenwärtigen Sie sich ganz einfach das, was Sie »ich« nennen. Beschreiben Sie es sich kurz. Vielleicht so: »Ich bin soundso alt, ich wiege so viele Kilo, ich bin soundso groß, ich habe an dieser Uni studiert, ich habe diesen akademischen Titel, ich habe diesen Beruf, ich lebe in einer Beziehung mit jemandem namens soundso, ich arbeite gern am Computer, ich mag Filme und Musik, nächste Woche habe ich Geburtstag.«  Also los, tun Sie es. Es kommt darauf an, dass Sie ein klares, »objektives« generelles Bild von dem bekommen, wie Sie es jetzt gerade empfinden. Die anschließende Begegnung gelingt viel besser, wenn Sie sich diese Einstimmung ein wenig Zeit nehmen, ein paar Minuten.

 

Fällt Ihnen auf, dass daran eigentlich zwei Ichs beteiligt sind? Das eine haben Sie gerade betrachtet und als Objekt beschrieben. Bei allen Einzelheiten der Beschreibung handelt es sich um Objekte, die Sie als solche wahrnehmen. Dann ist da aber noch das Ich, das wahrnimmt und beschreibt, das betrachtende Ich, der Sehende, der Zeuge. Dieses Ich sieht, aber ist selbst nicht zu sehen - so wenig, wie ein Auge sich selbst sehen oder eine Zunge sich selbst schmecken kann. Dieser »Seher« ist reines Subjekt und kann nicht als Objekt gesehen werden. Der moderne Zen-Meister Zenkai Shibayama sprach hier von absoluter Subjektivität. Ramana Maharshi nannte es das Ich-Ich: das große Ich, dem das kleine Ich gegenwärtig ist. Wenn Sie diesen Sehenden oder Seher finden möchten und dann tatsächlich etwas sehen, kann es sich nur um Objekte handeln, nicht um das wahre Subjekt, den Seher, das Ich. Der Seher, das Ich, würde eher so etwas sagen: »Ich sehe den Berg, aber ich bin nicht der Berg. Ich habe Empfindungen, aber ich bin nicht diese Empfindungen. Ich fühle, aber ich bin nicht die Gefühle. Ich denke, aber ich bin nicht die Gedanken. Ich bin nichts, was gesehen werden kann, ich bin der reine Seher selbst.«

 

Während Sie in diesem Zeuge-Zustand des reinen Sehens sind, sehen Sie keine bestimmten Objekte. Sie werden jedoch auf ein Gefühl von Freiheit, von Offenheit aufmerksam werden, auf einen Raum, einen Freiraum: Sie sind nicht mehr mit irgendwelchen Objekten identifiziert, Sie sind ihr Zeuge. Als ihr Zeuge sind Sie frei von ihnen. Sie haben Gefühle und nehmen sie wahr, aber Sie sind nicht diese Gefühle, Sie sind frei von ihnen. Sie haben Gedanken und wissen um diese Gedanken, aber Sie sind nicht die Gedanken, Sie sind frei von ihnen. Immer sind Sie mit manchen dieser gesehenen Objekte identifiziert gewesen, und Sie haben sie für ein wahres Ich gehalten, aber sie sind kein wahres Ich, kein Subjekt. Sie sind Objekte, sie sind Gesehenes und nicht der Seher. Das erste Ich, das Sie sich eben vergegenwärtigt haben, ist in Wirklichkeit; das, was Sie nicht sind, nicht wirklich, nicht wahrhaft. Dieses Ich ist vielmehr immer an eine der besprochenen sieben bis acht verborgenen Landkarten oder Stufen des Aufwachsens gebunden. Dabei handelt es sich immer um das gewohnte kleine Ich, das die Welt nach den Vorgaben seiner verborgenen Landkarten betrachtet. Wenn Sie dieses Subjekt mithilfe der Achtsamkeit zu einem Objekt machen, tritt das kleine Ich der nächsthöheren Stufe mitsamt seinen verborgenen Landkarten hervor, und Sie identifizieren sich damit, sodass es Ihr Subjekt wird, das nach den Vorgaben der neuen Landkarte die Welt sieht und deutet. Das geht so weiter, bis alle Subjekte und verborgenen Landkarten Objekte geworden sind, von denen Sie sich durch Disidentifikation lösen, bis nur noch der reine Seher da ist, das wahre Ich, der Zeuge, die absolute Subjektivität - radikale Offenheit, Leerheit und Freiheit. Danach kommt der letzte Schritt dieser Verwandlung in das nonduale Bewusstsein der Einheit, zu dem wir gleich kommen.

 

Dieser Zusammenhang erklärt, dass in den meditativen Traditionen der Welt immer wieder gesagt wird, wir seien Opfer einer gewaltigen Fehleinschätzung unserer Identität: Wir haben den Seher mit dem Gesehenen verwechselt. So sagt Patanjali, der indische »Vater des Yoga«, in seinen Yoga-Sutras (II, 6) über das unwissende, unerleuchtete Ich: »Ichhaftigkeit ist die Gleichsetzung des Sehers mit dem Instrument des Sehens.«

 

Der Seher oder Zeuge ist unendlich und eins mit dem Geist, das kleine Ich dagegen endlich, begrenzt, zerrissen und von Ängsten geplagt. Der Zeuge kennt keine Angst, er ist der Zeuge der Angst. Er ist nicht Opfer des Lebens, er ist Zeuge des Lebens. Wenn sich Ihre Identität vom kleinen Ich oder Objekt-Ich zum Seher oder wahren Ich verschiebt, empfinden Sie nur noch eine große Erleichterung und Freiheit, eine offene Weite, in der sich alle inneren und äußeren Dinge Moment für Moment zeigen. Sie sind diese Lichtung, diese offene Weite, in der alles erscheint, jetzt und jetzt und jetzt. Sie sind auch das, was die Erwachten mit neti neti bezeichnen, »nicht dies, nicht das«. Dieser Sanskrit- Ausdruck umschreibt eine Vedanta-Methode der Selbsterforschung, die einen durch schrittweise Elimination aller erdenklichen Antworten auf die Frage »Wer bin ich? «zu der Antwort »Nicht dies, nicht das« und damit schließlich zum Ich führt. Ich bin nicht dies und nicht das und nicht irgendetwas sinnlich Wahrnehmbares oder Erdenkliches, ich bin vielmehr die offene Weite oder Lichtung, in der alle Dinge erscheinen.

 

In dieser offenen Weite ist ein durchgängiges Ich Bin gegeben, ob Sie es bereits wahrnehmen oder nicht. Es ist sogar im Tiefschlaf gegeben. Ich Bin ist die eine jederzeit gegebene »Erfahrung«. Sie wissen wahrscheinlich nicht mehr, was Sie heute vor einem Monat getan haben, aber Sie können sicher sein, dass Ich Bin präsent war. Was Sie vor zehn Jahren getan haben, wissen Sie vermutlich erst recht nicht mehr, aber Ich Bin war dabei. Ich Bin ist immer da, aber nicht, weil es von unendlicher Dauer wäre, sondern weil es zeitlos oder »unzeitlich« ist und im gegenwärtigen zeitlosen Augenblick existiert, im reinen Jetzt. Da es nicht in die Zeit eintritt, ist ihm alle Zeit gegenwärtig. Der Zeuge weiß um die Zeit, bleibt aber selbst frei von ihr. Und wie wir gesehen haben, ist »Ewigkeit« eigentlich nicht unendliche Zeit, sondern der zeitlose Augenblick, reines Präsens. Und da das Ich Bin jederzeit präsent ist, leben Sie immer schon in der Ewigkeit, ob es Ihnen bewusst ist oder nicht.

 

Und die Vergangenheit? Nun, denken Sie an irgendeinen vergangenen Augenblick, der aus Ihrer Sicht wirklich stattgefunden hat. Tatsächlich wird Ihnen da ja nur Ihre Erinnerung an diesen Augenblick bewusst, nicht der Augenblick selbst, und die Erinnerung entsteht eben jetzt. Dasselbe gilt für alle vorgestellten künftigen Augenblicke. Sie existieren ausschließlich als Gedanken, die eben jetzt gedacht werden. Erwin Schrödinger, der Begründer der Quantenmechanik, sagt in seiner Autobiografie Mein Leben, meine Weltsicht, die Gegenwart sei das Einzige, was kein Ende hat. Und tatsächlich existiert immer nur der Jetzt-Augenblick und nichts als der Jetzt-Augenblick - jetzt und jetzt und jetzt. Der Jetzt-Augenblick ist auch das Einzige, was je in Ihrem Bewusstsein sein kann: Der Zeuge weiß immer nur um diesen Jetzt-Augenblick, und das bedeutet, dass er in der »Ewigkeit« lebt. Bei manchen Formen der spirituellen Praxis üben wir, »im Hier und Jetzt zu sein«; wir richten unsere Aufmerksamkeit auf das, was jetzt gerade ist, und blenden alles Frühere und Spätere aus. Dieses »Sei jetzt hier« beschert uns aber nur eine vorübergehende Gegenwart, die wir sozusagen von Vergangenheit und Zukunft abtrennen, während das wahre zeitlose Jetzt nichts ist, woran man erst arbeiten müsste, sondern jederzeit gegeben und nicht einmal zu umgehen: Es ist alles, was Ihnen je bewusst sein kann, und in dessen ewiger, unzeitlicher Gegenwart auch alle Gedanken an Vergangenes und Künftiges Platz haben.

 

Das wahre Ich existiert im zeitlosen Jetzt. Es nimmt die verstreichende Zeit wahr, lebt aber nicht selbst in der Zeit. Es ist zeitlos, und das ist die eigentliche Bedeutung von »Ewigkeit«. Und der Zeuge »bezeugt« einfach alle Dinge und Ereignisse, die sich in der offenen, leeren Weite des Jetzt zeigen.

 

Wenn Christus sagt »Bevor Abraham war, bin ich« oder Gott mit den Worten »Ich bin, der ich bin« zitiert wird, ist genau das gemeint, dieses unmittelbare und pure Ich Bin, nicht ich bin dies oder ich bin das, sondern reines Ich Bin - zeitlos, ewig, Ihr ursprüngliches Gesicht vor der Geburt Ihrer Eltern, vor der Geburt des Universums, vor der Geburt der Zeit, jetzt. Es ist das Ich Bin, das Sie eben jetzt empfinden und auch wahrnehmen. Dieses reine Ich Bin, bevor es irgendetwas Bestimmtes ist, das ist hier gemeint. Es ist immer so, es wird immer so sein.