Die Bedeutung des Weges in der Meditation

tl_files/images/Veranstaltungen-Bilder115x77/Granatapfel26.jpgMichael Miller
Stellen wir uns einen Menschen vor, der ein ganz gewöhnliches Leben führt. Er geht zur Arbeit, verdient sein Geld, geht seinen Hobbies nach... Das Von-selbst-Wirken führt ihn - wie jeden anderen auch. Nach vielen Wegstationen beginnt er zu meditieren: er übt das stille Sitzen oder Tai Chi oder ähnliches. Statt seinen anfänglichen Hobbies nachzugehen, sucht er jetzt den Sinn oder die Quelle des Lebens in der meditativen Praxis. Das Von-Selbst führt ihn durch viele Schichten hindurch bis zu einer Ebene, die wir vielleicht als "tief" und "intensiv" bezeichnen. Trotzdem weiß er jetzt ebensowenig oder ebensoviel über das Wirken des Von-Selbst wie zu der Zeit, in der er noch ein ganz "gewöhnliches" Leben führte. Eigentlich gibt es nur einen wichtigen Unterschied: jetzt ist es möglich, daß er einem spirituellen Lehrer Beachtung schenkt. 

 

Kommt die Begegnung zustande, vermittelt der Lehrer ihm das Vertrauen, daß das, was sich ereignen soll, von selbst geschieht. So wirkte Jesus, als er zu seinen Jüngern sagte: "Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und aufsteht, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst - und er weiß nicht, wie. Denn von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre." (Markusevangelium 4,26-28) In einer solchen Begegnung mit dem Lehrer kann ein Funke überspringen. Dieses Geschehen verdient den Namen Initiation. Allerdings hat sie sich möglicherweise schon lange vor der meditativen Praxis in seiner Kindheit ereignet, zum Beispiel wenn die Eltern ihm das Vertrauen auf ein Höheres Selbst vermittelt haben. Im Laufe der Zeit ist sie wieder vergessen worden, und der Gang durch die Schichten ist lediglich für die Erinnerung bzw. für die Wertschätzung des Vertrauens notwendig.

 

Das Erwachen zum Vertrauen ist ein entscheidendes Ereignis. Aber es handelt sich in keinem Fall um die geradlinige Verlängerung des bisherigen Meditationsweges, der durch viele Schichten hindurch geführt hat und nun bei einem weiteren Schritt auf das Vertrauen als nächste Schicht stößt. Es ist nicht möglich, vorher die Richtung zu kennen, die eingeschlagen werden müßte, oder die Atmosphäre, nach der zu suchen wäre. Das Von-selbst-Wirken ist in keiner bestimmten Richtung zu finden und besitzt keine eigene Atmosphäre. Es ist nicht greifbar, nicht sichtbar, nicht spürbar, sondern leer. Daher kann es sich demjenigen, der ihm vertraut, in allem zeigen.

 

Läßt das Vertrauen nach, geben wir dem Von-selbst-Wirken einen bestimmten Namen, eine Farbe, eine Form und hindern es dadurch, unser ganzes Sein zu durchdringen. Wir erzeugen vom Ego her einen Gegendruck. Je stärker das Vertrauen, desto weniger können wir über das Von-selbst-Wirken sagen und umso mehr wirkt es durch uns: im stillen Sitzen, im Tai Chi, in Ruhe, in Bewegung, im Schweigen, im Sprechen, in Freude, aber auch in Trauer, überall da, wo eigenes Wirken und Von-selbst-Wirken eins werden.

 

Pastor Michael Miller, 
Lebrade, November 2001