Fallgruben zu Brunnen

Zusammenfassung

 

In Märchen, Fabeln, Dichtung und vielen Erzählungen der Bibel sind Traumbilder der Seele in verdichtende Worte gefasst. Sie wecken die Träume, die in meiner Seele schlafen. Aus dem Unbewussten meiner Klient/innen tauchen ebenfalls Bilder auf. Manche dieser Bilder kommen in zeitgenössisch-modernen Gewand einher. Manche sind aus Märchen oder religiöser Umberlieferung bekannt. Was ist das? Was hat die Parallelität zu bedeuten? Wählt die Seele diese Symbole, damit wir ihre Prozesse besser verstehen? Oder steigen da therapeutisch besonders kraftvolle Menschheitsschätze auf?

 

 

Fallgruben zu Brunnen und Schlammlöcher zu Schatzhöhlen
Seelische Befreiung in transpersonaler Seelsorge

 

Dieser Aufsatz zentriert sich um zwei Beispiele aus meditativ-seelsorgerlicher Praxis. Er setzt dabei gegenwärtige therapeutische Bild-Erfahrungen in Beziehung zu inhaltsnahen Sprachbildern aus spiritueller abendländischer Tradition.

 

Dass Spirituelles Coaching meditative Präsenz auf Seiten des Therapeuten bzw. der Therapeutin voraussetzt, ist unter anderem in der vorangegangenen Ausgabe dieser Zeitschrift (1/2007) mehrfach beschrieben. Über das Eintauchen in meditative Präsenz oder in Stille öffnet sich ein transpersonaler therapeutischer Raum, oder – sprachlich anders beschrieben – entsteht eine spirituelle Atmosphäre, die beide, Therapeut/in und Therapie Suchende, umfasst. In diesem „Raum“, in dieser Atmosphäre treten beide in eine Ebene des Bewusstseins und Erlebens ein, auf der transpersonale Erfahrung möglich wird.

 

Damit sind transpersonaler Therapie oder Seelsorge von formalen Voraussetzungen her beschrieben. Was aber ist mit den Inhalten? Im transpersonalen Zusammenhang sind wir auf einer Ebene, auf der in symbolischer Sprache kommuniziert wird, in der Sprache der Märchen, der Archetypen, der Mythen, der verdichteten Symbolik. Ein seltsames Phänomen dabei ist, dass im inneren Bild der Klient/innen – wie C.G. Jung es von Träumen beschreibt – „symbolische Gebilde“ auftauchen können, „denen wir auch in der Geschichte des menschlichen Geistes begegnen.“ Und C.G. Jung fügt hinzu, dass es bemerkenswert sei, „dass der Träumer von der Existenz solcher Parallelen keine Ahnung zu haben braucht.“[1]

 

Diese Parallelität fasziniert mich. Ich möchte sie im Folgenden an zwei Beispielen beschreiben und dabei der Frage nachgehen, welche Bedeutung der Parallelität für das therapeutische Selbstverständnis und für den therapeutischen Prozess zukommt.

 

Erstes Beispiel: Fallgruben zu Brunnen
Ein seelischer Heilungsprozess nach klassischem Muster

 

Eine Frau aus dem Zusammenhang unserer Meditationsgruppen bittet dringlich um Hilfe, weil sie erneut in ihrer Arbeitsstelle, einer Arztpraxis, in einer Krise sei. Sie berichtet (kursive Schrift zitiert aus ihrer Niederschrift der Sitzung): In letzter Zeit verstärkt sich die Abneigung gegen mich zunehmend und ich erfahre in extremer Weise, was Mobbing ist: Neuerungen werden mir nicht mitgeteilt, die Praxiskolleginnen sprechen über mich untereinander, aber nicht mit mir. Wenn irgendetwas nicht gut läuft, wird es mir zugeschoben. Wie widerlich sie mich finden, äußern sie frontal, was früher nur hintenherum getuschelt wurde. Kurz, die Situation spitzte sich so zu, dass ich nach einem Sturz in der Duschwanne hintenherum erfuhr, dass man mir nachsagte, ich habe wohl gesoffen. Die Summe der Anfeindungen mit den letzten Beschuldigungen gab mir den Rest. Einerseits hatte ich eine maßlose Wut, andererseits fühlte ich mich so ohnmächtig, weil eben alles hintenherum geschah.

 

Ich vermute, dass ich nun wirklich heraus gemobbt werden soll. Ich vermute, dass man mich als arbeitsunfähig hinstellen will. Neue Untersuchungsprogramme laufen an und ich bekomme keine Einarbeitungsmöglichkeit! Aus meiner Tiefe brodeln Jugenderfahrungen hervor, aus meiner Erinnerung ähnlich Situationen, die ich vor über 20 Jahren erlebt habe.

 

Ich lade Frau F. ein, auf die meditative Ebene zu gehen. Ich tue das hier wie oftmals mit den Worten: „Lassen Sie einmal die äußere Welt zurücktreten, lassen Sie sich ein auf den Raum und die Zeit jetzt hier. Wir verweilen in aller Ruhe, bis die `Kraft der Stille´ sich einstellt.“

 

Die Atmosphäre „der Stille“ ist allerdings schon vorbereitet. Ich beginne keine Sitzung, ohne mir von den Besucher/innen zu erbitten, mich zunächst einen Augenblick in mich selbst und in „die Stille“ zurückziehen zu dürfen. Oft setze ich erklärend hinzu, dass ich mich innerlich trennen müsste von dem, was mich vorher gerade beschäftigt war. Das ist eine leidliche Erklärung auf rationaler Ebene, die die Befremdlichkeit des Vorgangs möglicherweise ein wenig aufhebt. Von meiner Innensicht her und auf spiritueller Ebene ist es noch etwas anders. Es ist ein Ritualelement. Zunächst vielleicht atmosphärisch nur von meinem eigenen Spüren her wahrgenommen, grenzt es die jetzt folgende Zeitspanne aus dem Lauf des geschäftigen Alltags heraus aus und gibt ihr energetisch einen neuen Charakter mit einer Tendenz zu Ruhe, zu Gelassenheit, zu Ernsthaftigkeit. Der innere Vorgang auf meiner Seite ist, dass ich mich – in meiner Formulierung ausgedrückt – in dieser kleinen meditativen Pause innerlich „in die Kraft“ (des Geistes) stelle. Der Umschwung stellt sich spürbar ein und gibt mir die Zuversicht, dass jetzt tendenziell nicht nur mein kleines Ich im Spiel ist. In theologischer Fachsprache würde dieser kleinen Akt als „Epiklese“ bezeichnet werden: Herbeirufung des Heiligen Geistes; und die dichterisch-religiöse Sprache würde sagen: Der Umschwung fühlt sich an, als wäre ein Engel dazu getreten. – Die Sitzungen beginnen also mit einer Zäsur zwischen Ankommen und Dasein. Eigentlich ausnahmslos schließen sich die Besucher/innen an, schließen ebenfalls ihre Augen und „kommen an“.

 

So also auch im vorliegenden Fall. Dann folgte das Gespräch, in dem die Problemlage auf rationaler Ebene entfaltet wurde. Als diese ausreichend vor Augen stand, folgte der Vorschlag, auf die meditative Ebene zu gehen. Ich gab in diesem Fall kein Bildmaterial vor, sondern nahm eine offene Formulierung: „Wenn die meditative Ebene sich eingestellt hat, dann werden wir Ihr inneres Wissen bitten, uns dazustellen, was es zu dieser Situation beizutragen vermag.“  

 

Frau F. beschreibt daraufhin folgendes Bild: Ich sehe mich in der Wüste. Vor mir – etwas weiter weg –  ein mit Brettern abgedecktes Loch. Wie eine Fallgrube. Ich habe große Angst davor. Ich könnte ja rechts oder links daran vorbeigehen, doch ich fühle mich magisch angezogen.

 

Ich rate, in Distanz zu bleiben und von einem sicheren Platz aus zu schauen, was es mit dem Phänomen auf sich hat. Sie beschreibt noch ein paar Details von den Brettern und dem Sand, der sie teilweise verdeckt. Die Panik legt sich. Nach einer Weile geht sie darauf zu, nimmt die Bretter zur Seite und schaut in eine brunnenähnliche Einbohrung, als hätte man hier nach Wasser oder nach Oel gebohrt. Sie klettert schließlich sogar in den Schacht hinunter, nicht ohne mich vorher zu bitten, das kräftige Seil zu halten, das zur rechten Zeit zur Hand ist.

 

Meine Angst schwindet, ich werde sogar neugierig darauf, was ich entdecken werde, schreibt sie in der Niederschrift. Ich finde einen etwas schlammigen Grund vor. Er scheint jedoch noch tiefer zu führen. Zwei Steinplatten verschließen etwas. Was wird sein, wenn ich sie wegnehme? Wird eine Wasserfontaine hochschießen, oder gar eine Oelfontaine?“ – Wieder ist da ein Gefühl der Beklemmung, und wieder rate ich, vorsichtig zu verweilen und erst einmal genauer erkundend hin zu schauen. – Nach einer Weile nehme ich die Steinplatten zur Seite und ich entdecke einen weiteren „Schacht“ und dahinter eine Höhle. Diese Höhle ist von Sonnenlicht durchstrahlt und zeigt mir an den Wänden Edelsteine. – Also, das ist das Geheimnis: Hier werden Edelsteine abgebaut.

 

Die zweite Angst ist durchschritten. Es ist eine angenehme Atmosphäre in der Höhle. Sie schaut sich um, sie verweilt, mustert die Edelsteine. Ich frage, ob sie einen Edelstein mitnehmen möchte. Sie schreibt im Tagebuch:

 

Ja, ich durfte. Ich wählte nicht den leuchtenden, königblauen Stern. Ich wählte einen hellen, klaren Stein. Er ließ sich leicht aus dem übrigen Gestein herauslösen, war aber auch mit Erdgestein behaftet. – Ich barg also einen etwa Straußenei großen Klumpen und machte mich auf den Weg zurück. Wobei ich mich wunderte, dass ich eine Bergsteigerausrüstung trug. Das Seil war noch da. Mit meinen spitzen Schuhen stieß ich ins Erdreich und gelangte so wie auf einer Erdleiter wieder nach oben, mit meinem Schatz in der Hand.

 

Wir hatten als Impuls das „innere Wissen“ um einen Kommentar gebeten. Formal besteht die Reaktion aus zwei inhaltsähnlichen Bildszenen. Wie oft auch in Schlaf-Traum-Sequenzen wiederholt die zweite Szene das Thema der ersten in einer neuen Variante. Am Anfang stehen jeweils die Ängste. Die Fallgrube könnte sie magisch verschlingen. Den Grund des Schachtes aufzudecken, könnten gefährliche Kräfte hervorbrechen lassen. In beiden Fällen rate ich, zu verweilen und die Gegebenheiten in Ruhe anzuschauen. Sicherheiten machen das möglich: Die sichere Distanz. Das Seil. Das Vertrauen auf meine Begleitung. Im Verweilen und Hinschauen verwandelt sich dann die Angst in Neugier und das Angeschaute von einer Fallgrube zum Brunnen und von einem Schlammloch zur Schatzhöhle.

 

Wer mit inneren Bildern Erfahrung hat – wie im katathymen Bilderleben, in Trancetherapie oder im Yoga Nidra[2]  – , der kennt diesen Vorgang und geht auch davon aus, dass er sich im Zuge der Zeit und insbesondere im aufmerksamen Hinschauen einstellen wird. Wir müssen durch erhebliche Widerstände hindurch. Die Umwandlung wird vom Therapeuten wie von der Therapie Suchenden wie ein kleines Wunder erlebt. Der Umschwung ist deutlich spürbar Ausdruck einer seelischen Befreiung. Gewöhnlich geht er Hand in Hand mit Heilung oder Klärung oder personaler Integration auf sehr tiefer seelischer und oft auch auf körperlicher Ebene.  

 

Die Struktur des Bildmaterials

 

Lassen Sie uns auf die Inhalte der Bilder schauen. In diesem Fall haben wir einen Typ von Verwandlung, in dem das gegenständliche Material erhalten bleibt, aber seine Qualität sich ändert. Der in die Erde gegrabene Schacht bleibt ein Schacht. War er aber eben als Fallgrube lebensbedrohend, so ist er jetzt als Brunnen tendenziell lebensfördernd. Gleichermaßen in der zweiten Variante: Eben war der Schachtboden ein Schlammgrund. Jetzt wird er zur Schatzhöhle. Eine Konversion, eine Veränderung der Nutzung, zu der etwas bestimmt ist.

 

In der Sitzung mit Frau F. kehren wir an dieser Stelle aus der meditativen Ebene zurück. Wie gewöhnlich rekapitulieren wir den abgelaufenen Prozess: „Wir haben das innere Wissen gefragt… Es hat in Bildern Ihre Lage kommentiert… Parallel dazu haben Sie magische Angst erlebt und beglückende Befreiung…“ Wir realisieren, dass es zwei Szenen sind. Die Parallelität der beiden durchstandenen Ängste zu ihren Ängsten am Arbeitsplatz war sofort erkannt. Man könnte vom Mobbing magisch verschlungen werden. Den Sumpf des Mobbings aufzudecken, könnte gefährliche Aggression hervorbrechen lassen. Wir gehen auf die Inhalte der Bilder und ihre Verwandlung ein. In dem Augenblick, wo die Verwandlung mit den Formulierung „Fallgruben zu Brunnen“ und „Schlammlöcher zu Schatzhöhlen“ in Sprache gefasst ist, stellt sich die Assoziation ein: Das ist wie „Schwerter zu Pflugscharen“.

 

Für Frau F. ist die Botschaft, die aus ihrer Seele aufsteigt, im Nachdenken klar: Die Vorgänge in der Arbeitstelle müssen sich nicht zwangsläufig als Fallgruben und Schlammlöcher erweisen, die Spannungen nicht notwendigerweise als Krieg.

 

Das Bildwort von den Schwertern, die zu Pflugscharen werden, wurde um 700 vor unserer Zeitrechnung vom Propheten Jesaja in Sprache gefasst[3]. In der gegenwärtigen therapeutischen Praxis taucht also eine Bildverwandlung auf, die sich nach dem gleichen Muster vollzieht, wie eine klassische Vorform. Welche Bedeutung messen wir dieser Parallelität zu? Wir werden unten eine Antwort versuchen. Davor bedarf es einer Verständigung, wie wir das Phänomen der Bildwandlung als solches interpretieren.

 

Wie deuten wir das Phänomen, dass sich die inneren Bilder verwandeln?

 

Die Bilder verändern sich wie von selbst, als gäbe unser Hinschauen ihnen nur die Energie für die Veränderung, als sei aber die Richtung in ihnen schon angelegt. Und wir wissen: Aus Erfahrung oder Intuition oder Kenntnis ähnlichen Materials heraus die Richtung zu erahnen, in die ihre Entfaltung strebt, hilft ganz entscheidend, prozessfördernde Impulse zu setzen.

 

Man könnte die Deutung auf einer psychologisch-phänomenologischen Ebene belassen und sagen: So ist mehr oder weniger regelmäßig der Vorgang. Auf der Ebene des Gefühls zeigt sich die Angst. Die Seele, oder wie immer wir die agierende innere Instanz in solchem Zusammenhang nennen, setzt symbolische Bilder aus dem Bereich der Natur und gegenständlichen Welt dazu, wie es auch das Märchen tut. Den dunklen Wald setzt es parallel zur Angst der Kinder; das bergende Moosbett parallel zur Gefühlsatmosphäre der Sorglosigkeit. Manchmal setzt die innere Instanz als Parallele auch lebensgeschichtliches oder lebensgeschichtlich-symbolisches Material dazu. Das wichtige und heilende Element ist, dass auf diese Weise die seelische Lage dem Bewusstsein zugänglich wird und auf gefühlsmäßiger wie auf symbolisch-gegenständlicher Ebene angeschaut werden kann. Das ist der Schlüssel für die Heilung.

 

Die Deutung des Vorgangs wird aber für die Praxis noch wichtiger, wenn man seine transpersonalen Qualität beschreibt. Ich staune nach wie vor darüber, dass ich in der inneren Komposition meines Seelsorge suchenden Gegenübers auf eine verlässliche Kraft treffe, die zur Heilung hin drängt, und ich staune, wie sie dies auf ihre eigene und oft völlig überraschende Weise tut. Das heißt: Sie folgt nicht meinem Willen als Therapeut oder als Betroffener, sondern hat eigenen Willen und hat ihre eigene Intelligenz. Meine therapeutischen Impulse gehen davon aus, dass sich diese Kraft wach rufen lässt und die therapeutische Aufgabe darin besteht, den Prozess zu initiieren und behutsam steuernd zu begleiten, d.h. ohne den Kontakt mit ihrer Entfaltungsdynamik oder das inneren Geschehen zu überfremden. 

 

Wenn ich von einer solch gearteten eigenständigen Kraft in meinem Gegenüber ausgehe, dann bin ich in transpersonaler Deutung. Ich setze sprachlich damit klar, dass sie nicht aus einem Bereich stammt, der der dem Tagesbewusstsein und dem Willen des Klienten zugänglich ist. Und wenn ich die therapeutischen Phänomene richtig deute, dann muss man diese Kraft auch noch in einem kollektiven Sinne als transpersonal denken, ähnlich wie C.G. Jung das Unbewusste in einem Teilaspekt als kollektives Unbewusstes beschreibt, da es die gesammelte Menschheitserfahrung in sich[4] trägt und von daher trösten und deuten kann.

 

Die Kraft, von der wir hier sprechen, hat aber eine vorwärts weisende Richtung. Die Bilder verwandeln sich nicht in alle möglichen Richtungen, sondern in eine Weise, die wir als „zum Guten hin“ empfinden, - jedenfalls solange der Prozess nicht im psychischen Widerstand versinkt. Die Verwandlung läuft nach dem Muster ab, das auch (oder schon) in dem alten Bildwort sichtbar ist.

 

Welche Bedeutung hat die Parallelität des Bildmaterials?

 

Was hat das Alter des Bildwortes für unseren Zusammenhang für eine Bedeutung? Folgen wir Karl Jaspers Geschichtsphilosophie, so gehört das Bildwort in die Ursprungszeit, in der sich unsere Vorstellungen und unser Gefühl, was das Menschsein im Guten ausmacht, herausgebildet haben. Die Zeitspanne zwischen 800 und 200 vor unserer Zeitrechnung nennt Karl Jaspers Achsenzeit. Kulturübergreifend löst sich in dieser Zeit das menschliche Bewusstsein aus seiner Gefangenschaft unter Götter und Schicksalsmächte und entwickelt Selbstbewusstsein und die noch heute wirksamen Grundkategorien des reflektierenden Denkens. Der Mensch „erfährt die Furchtbarkeit der Welt und die eigene Ohnmacht. Er stellt radikale Fragen. Er drängt vor dem Abgrund auf Befreiung und Erlösung.“[5] Es ist ein radikaler Umbruch. „Durch diesen Prozess wurden die bis dahin unbewusst geltenden Anschauungen, Sitten und Zustände der Prüfung unterworfen, in Frage gestellt, aufgelöst. Alles geriet in einen Strudel. Soweit die überlieferte Substanz noch lebendig und wirklich war, wurde sie in ihren Erscheinungen erhellt und damit verwandelt.“[6]

 

In diesen Prozess hinein gehört das alte Bildwort. Angesichts permanenter Kriegsbedrohung und unaufhörlichen Kriegsleides steigt in Palästina um 700 vor unserer Zeitrechnung aus dem kollektiven Unbewussten eine Sehnsucht nach Veränderung auf und findet ihren Ausdruck in dieser faszinierenden Vision von einer neuen Zeit: „Da werden die Völker ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“ So niedergeschrieben im Buch des Propheten Jesaja (Jes 2,4) und fast wort- und zeitgleich auch bei seinem Kollegen Micha (Mi 4,3 ). Die Propheten in Palästina rechnet Jaspers ausdrücklich zu den Protagonisten dieses Umbruchs, wie Homer und Plato in Griechenland, Zarathustra im Iran, die Upanishaden und Buddha in Indien, Laotse, Konfuzius und Dschang Dsi in China. [7]

 

Das Bildwort des Jesaja ist geistesgeschichtlich eine Konkretion aus diesem umfassenden Bewusstseinsdurchbruch. Sinnfällig und faszinierend bringt es das neue Bewusstsein zum Ausdruck und weist auf die Aufbruchsstruktur hin, die sich da in der Seele des Menschen herauszubilden beginnt. Beides können wir als kollektive Kulturerrungenschaften des menschlichen Geistes verstehen: die Aufbruchsstruktur in der inneren Komposition des Menschen und die vielen visionären Konkretionen von gelungenem und geglückten Leben, die seither auf äußerer Kulturebene entstanden sind und zum Teil offenbar auch Eingang in das kolletektive Unbewusste gefunden haben[8]. Ab jetzt drängt die Lebensenergie des Menschen seelisch in eine bestimmte Richtung. Ab jetzt hat er das Gefühl – und wir mit ihm – dass sein eigentliches Wesen mit dieser Richtung auf Befreiung und Vervollkommnung erst wirklich zum Vorschein kommt.

 

Ich deute also das Phänomen, dass die aufgetauchten inneren Bilder in ihrer Struktur und Verwandlung dem alten Bild folgen, dahin, dass ich in der Seelsorgepraxis die gleiche Kraft in der inneren Komposition meines Gegenübers als Partner habe, die auch den beschrieben geistesgeschichtlichen Aufbruch der Achsenzeit in Gang gesetzt hat. In weitest möglich nicht-religiöser und nicht-metaphysischer Sprache pflegen wir sie als die Kraft der Evolution des Geistes zu bezeichnen oder – wie Karlfried Graf Dürckheim - als das Wesen, das im Menschen zur Verwirklichung drängt[9]. Dabei signalisiert Dürckheim mit der Formulierung „das Wesen“ und nicht allein „mein Wesen“, dass man bei dem Versuch, die letzte, tragende Realität und den Wirkgrund des Menschseins zu beschreiben, intellektuell und gefühlsmäßig an den Bereich des Numinosen oder Heiligen heranrührt. Das Wesen ist individuell und gleichzeitig kollektiv und auch transzendent zu beschreiben, weil es in mir wie in allen und allem auf Verwandlung hin wirkt. Der Ursprung der Verwandlung bleibt in seiner Eigentlichkeit transrational, d.h. ist vom rationalen Verstand als unergründbares Geheimnis zu akzeptieren, ist aber die Quelle ihrer Kraft. D.h.: In unserer therapeutischen Praxis machen wir die Erfahrung und setzen wir voraus, dass es in meinem Gegenüber einen Schatz solchen Charakters gibt, der die Kraft zur Heilung und ihre Richtung beinhaltet. [10]

 

In der Bildersprache von Frau F. kommt der doppelte Charakter der Verwandlung gut zum Ausdruck: Nach dieser Sitzung fühlte ich mich erleichtert, weil so etwas wie Vertrauen zu erahnen war. In meiner Arbeitsstelle fühlte ich mich leicht und irgendwie unangreifbar. Den neuen PC erlebte ich wie einen Umstieg von meinem VW in einen Alfa Romeo. Die anderen schienen sich über mein spielerisches Umgehen mit Computerschwierigkeiten zu wundern. Ich hatte das Gefühl, über Wasser zu gehen und das Wasser trug mich.

 

Jetzt nach Weihnachten bzw. nach Neujahr ist immer noch ein schwelender Prozess in der Praxis zu spüren, nur ich, ich habe mich verändert! Ich bin getrennt von der Meinung anderer über mich. Ich staune von Tag zu Tag aufs Neue, wer ich eigentlich bin. War das der Schatz, den ich aus der Tiefe holte? – Der Schatz jedenfalls ist im Werden. Die Erklumpen werden in schmerzhaften Prozessen abgetragen werden müssen. Erst danach kann das Schleifen des Edelsteines geschehen. In 10 oder 20 Jahren?

 

Der Schatz, den sie da gehoben hat, versteht sie offensichtlich als ihren Wesenskern, und ihren weiteren Weg als einen Prozess, in dem er am Ende zur Vollkommenheit geschliffen sein wird.

 

Zweites Beispiel: 40 Wüstentage
Ein Klärungsprozess im Spiegel klassischen Materials

 

Im nächsten Beispiel geht es schwerpunktmäßig um Klärung. Vor geraumer Zeit traf Herrn R. die Diagnose, dass seine Frau eine komplizierte Form von Krebs hat. Es folgten Wochen mit Untersuchungen und verschiedenen Therapieversuchen. Vor kurzem hatte man sich zu einer mehrwöchigen stationären Behandlung entschlossen, die eine Unterbringung im Isolierzelt mit sich brachte. Spätestens in dieser Phase war klar, was allen Beteiligten auch vorher schon mehr oder weniger bewusst war, dass es eine Therapie auf Leben und Tod war.

 

Herr R. hatte sich selbst so erlebt, dass er in der ersten Zeit, als sie anfangen mussten, sich mit der Krankheit auseinanderzusetzen, mit einem Schub großer Energie reagierte. Zusätzliche Verantwortung war auf ihn zugekommen, und er erlebte mit Erstaunen, dass ihm auch mehr Energie zur Verfügung stand. Gleichzeitig erlebte er, dass er sich – wie alle in solcher Weise betroffenen – mit einer Fülle an Gedanken, Phantasien, Befürchtungen auseinandersetzen musste. Manche fand er verständlich und akzeptabel, manche Phantasien waren einfach „Schrott“. In der Phase der stationären Behandlung dann, tauchte er völlig ab, erledigte beruflich und privat das Nötigste und war ansonsten im Krankenhaus. Das fühle sich an, als hätte er „auf Autopilot geschaltet“.  In diesem „Zustand“ kam er zu mir zur Sitzung. Er wüsste gar nicht mehr, wer er sei und was mit ihm sei.

 

Wir gingen auf die meditative Ebene, auch hier wie oben, mit der Bitte an das „innere Wissen“, uns die Lage zu kommentieren, also ohne Bildmaterial vorzugeben.

 

Im inneren Bild sah er sich in einer Wüste. Da war nichts sonst. Er sah sich in sitzender Haltung. Es war still. Offenbar meditierte er. Das blieb so. Im Bild geschah nichts weiter. Aber nach einer Weile stieg in ihm ein inneres Wissen auf. „Es geht um 40 Tage“, sagte er. Ich nahm das zur Kenntnis und wir verweilten gemeinsam weiter in dem Bild, er recht tief in Trance. Nach einer Weile kommt: „Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber da taucht das Wort `Versuchung´ auf.“ Und nach einer weiteren Pause: „Es hat etwas mit Jesus zu tun.“ Ich lasse das stehen. Zeit vergeht. Er spürt weiter nach. Ich frage: „Was ist mit Dir?“ Nach einer Weile sagt er: „Es ist der 39. Tag.“ Und nach weiterem Nachspüren: „Auf einer Ebene ist es der 39. Tag, aber auf einer tieferen Ebene ist es der 20. Tag.“ Damit schien die Erkenntnis abgeschlossen zu sein. Wir ließen die meditative Zeit ausklingen. Wir kehrten zurück ins rationale Bewusstsein.

 

Herr R. war verwundert. Er, der sonst selten meditiert, erlebte gewissermaßen eine Meditation in der Meditation. Dass sie ihm Erholung, Erleichterung, tieferes Atmen gebracht hatte, war ihm sofort bewusst. Aber die aufgetauchten Inhalte sagten ihm zunächst nichts. Die seltsame Lage war mir auch bewusst. Ich wusste von ihm, dass er mit christlicher Tradition nicht sonderlich vertraut ist. Von daher konnte ich mich auch fast des Eindrucks nicht erwehren, als würde sein inneres Wissen in meiner Sprache kommunizieren, also mit mir, auf dass ich verstehe, was es zur Lage von Herrn R. zu sagen hat. Ich fragte darum noch einmal vergewissernd nach, ob er eigentlich Jesus–Geschichten kenne, insbesondere die von den 40 Tagen in der Wüste. Er antwortete, da wäre eine ferne Ahnung, aber eigentlich kenne er sie nicht.

 

So setzte ich zu seinen inneren Bildelementen die klassische Erzählung hinzu, und wir versuchten die Bild-Erfahrung im Spiegel der verdichteten Szene zu verstehen.

 

Das erste Element war einfach. „40 Tage (oder für ein Volk auch 40 Jahre) in der Wüste“ ist in der hebräischen und christlichen Tradition das klassische Symbol für eine Fastenzeit, Zeit der Reinigung, der Klärung der eigenen Identität und der Rolle und Aufgaben im kommenden Lebensabschnitt. Dies alles nicht nur technisch, sondern vor transpersonalem Hintergrund.[11]

 

Das ist ja ein Vorgang, der auch aus indianischer und schamanischer Kultur bekannt ist. Quest: Sinnsuche. Über Träume oder in der Selbstversenkung oder auf anderem Wege steigt der eigene Name, die Berufung, die Lebensaufgabe aus dem Unbewussten ins Bewusstsein empor. Eine Kleinform dazu heißt heute Einzelretreat. So kann man sich in einer psychosomatischen Klinik in der Lüneburger Heide in eine Holzhütte im Wald zurückziehen. Man bekommt Essen und psychologisch–spirituelle Begleitung, in der kürzeren Form über drei Tage, in einer längeren Form über eine Woche. Hier also sind es 40 Tage. Eine sehr tiefe Form der Einkehr und Meditation.

 

Der erste Kommentar, den das „innere Wissen“ Herrn R. zu seiner Lage anbietet, ist, dass es die lange Zeit, in der er „auf Autopilot gefahren“ ist, als Zeit seelischen oder eher sogar spirituellen Wachstums versteht. Was Herr R. als „Abtauchen“ beschreibt, bezeichnet das „innere Wissen“ als „Wüstenzeit“ und gibt damit der durchlittenen Zeit eine positive Interpretation. Dass die äußeren Aktivitäten auf ein Minimum beschränkt wurden, passt zum Fasten. Das “innere Wissen“ tröstet und ermutigt, als würde es sagen: „Es waren und sind schwere Aufgaben. Aber ohne Herausforderungen gibt es kein Wachstum. Sieh den Wachstumsaspekt!“

 

Ein zweites ermutigendes Element heißt: Es ist der 39. Tag. „Die Wüstenzeit geht zu Ende. du bist fast durch.“ In dieser Weise jedenfalls haben wir in aller Vorläufigkeit den 39. Tag auf die konkrete Herausforderung bezogen, die Krankenhauswochen zu durchstehen, die in der Tat in diesen Tagen zu Ende gingen. Die Ahnung, auf tieferer Ebene sei es der 20. Tag, schien uns gleichzeitig einen Vorbehalt zu setzen: „Ganz bist du natürlich noch nicht durch. In der größeren Perspektive versteh dich bitte als auf der Mitte befindlich!“, als würde das „innere Wissen“ das ganze Leben als spirituellen Weg verstanden wissen wollen.

 

Würde man nicht weiter auf die Inhalte der alten Erzählung eingehen, dann hätten wir schon mit dieser Interpretation einen befriedigenden Abschluss der Sitzung, auch einen Abschluss, der das Gefühl der Befreiung, Erleichterung und Ermutigung, mit dem Herr R. aus der meditativen Ebene herausgekommen ist, angemessen aufnimmt und ins Bewusstsein hebt.

 

Bleibt die Frage, ob es für das Verstehen der eigenen Lage und der inneren Botschaft wichtig ist, auch den anderen Details nachzugehen. „Es hat etwas mit Jesus zu tun“ und das Stichwort „Versuchung“ tauchten auf. Von der Bildseite her ist es klar, dass mit diesen beiden Elemente nicht nur auf ein allgemeines Pattern „40 Tage Wüstenzeit“ angespielt, sondern eine konkrete, verdichtete Szene zitiert wird. Ist die konkretere Ausmalung kulturelles Beiwerk, oder bringt sie noch inhaltlichen Ertrag?

 

Insofern erlaube ich mir, hier die Erzählung wiederzugeben und zu interpretieren, wie ich es mir auch in der Sitzung erlaubt habe, so dass man prüfen kann, ob die Bruchstücke von ihrem ursprünglichen Bezugsrahmen hier noch weiterführenden Sinn bekommen.

 

In dem jungen Mann aus Nazareth, der später der große Meister der Christenheit wird, reifen und erwachen ungeheure Potentiale und als ihm bewusst wird, dass er in einem solchen Reifungsprozess steckt, zieht er sich, so wird erzählt, 40 Tage fastend in die Wüste zurück.

 

„Was hat es mit diesen Potentialen auf sich, die da in mir heranwachsen?“ Das wird die Kernfrage gewesen sein. „Was bedeuten sie und was soll aus mir mit ihnen werden?“ Mit Dämonen hat er zu kämpfen, wie auch später die mönchischen Wüstenväter. Mit dem Teufen, dem Satan, dem Versucher, sagt die alte Sprache. „Willst du deine ungeheuren Potentiale verwenden und aus Steinen Brot machen? Willst du von der Zinne des Tempels springen und Engelkräfte nutzen, dass sie dich auf ihren Händen tragen? Oder willst du sie verwenden für Macht: Alle Reiche dieser Erde zu deinen Füßen?“

 

Am Ende der 40 Tage, am Ende seiner Sinnsuche ist der junge Mann klar mit sich selbst. Der Aufruhr hat sich beruhigt, die Lage sich gewendet. „Da verließ ihn der Teufel“, sagt die Geschichte. „Und siehe, da traten Engel zu ihm und dienten ihm“[12].

 

Von den Engeln ist vorher gar nicht die Rede. Ich gehe davon aus, dass die Engel genau die Potentiale sind, mit denen er gerungen hat, und dass sie über dem Ringen ihren Charakter verändert haben. Jetzt, wo er klar ist, treten sie ihm nicht länger als dämonische Kräfte entgegen, sondern dienen ihm als Engel. Die gleichen Kräfte, eben noch im Charakter der Verführer – jetzt in Gestalt der Engel. Sie dienen ihm, nicht er dient ihnen.

 

Das Zentrum seiner Persönlichkeit hat sich geklärt. Sein eigentliches Wesen – so würde Graf Dürckheim formulieren – hat in ihm Gestalt gewonnen.

 

Was für eine Klarheit ist in ihm entstanden? Der Mystiker Johannes, Schreiber des Johannes-Evangeliums, würde sagen: Der Junge Mann hat begriffen, was er später öffentlich formuliert: „Ich und der Vater sind eins“. Noch einmal in etwas modernerer Sprache formuliert: Ihm ist bewusst geworden: Die Realität, die er auch „Vater“ nennt, ist die, die auch in ihm schwingt. Oder noch einmal anders: „Das Göttliche ist meine wahren Natur, und nicht nur meine, sondern die des Menschen schlechthin.“ Und von dieser Selbst-Erkenntnis her ist klar, dass die Nutzung seine Potentiale eine Richtung haben wird: Ego frei und zum Guten hin. Da sind die Engel gern dabei. Oder: Die gerichteten Potentiale, - das sind die Engel, wurden Engel doch im Mittelalter als göttliche Potenzen verstanden.

 

Trägt es für Herrn R. etwas aus, die ganze verdichtete Szene ins Bild zu holen? Die Antwort heißt: Sie kann wie ein Spiegel sein. Vielleicht sieht er im Spiegel noch mehr Details als zuvor.

 

Zwei zusätzliche Aspekte ergeben sich:

 

Der erste richtet sich gegen eine mögliche Selbstverurteilung. Im Spiegel findet sich das Element der Dämonen, als würde das „innere Wissen“ sagen: „Geh einmal davon aus, dass du mit Dämonen zu kämpfen hattest und hast. Was du da an Gefühls- und Gedankenwelten zu durchschreiten hattest und hast, ist nicht bedeutungslos. Deine Identität klärt sich, und im Zuge der Klärung integrieren sich die ehemals in den Dämonenkämpfen gebundenen Energiepotentiale als Kraftressourcen.“ Diese Sicht wertet gerade auch solche Elemente um und auf, die zuvor als „Schrott“ gesehen wurden. Inhaltlich sind es vermutlich solche, wo das Ego sich gemeldet hat. Denn da ist ja nicht einfach nur liebevolle und offene Präsenz, wenn wir Menschen – insbesondere geliebte Personen – in schwerer Krankheit begleiten. Da meldet sich auch und zum eigenen Erschrecken recht beharrlich das Ego, und dann nicht mit mitfühlender sondern mit der ego-zentrierten Trauer, dass mir möglicherweise ein Verlust droht. Oder es setzt erhebliche Energie darein, sich zu vergewissern, dass ich selbst von der Krankheit nicht betroffen ist. Da meldet es sich mit Abgrenzung, mit eigenen Bedürfnissen und Phantasien. Wenn wir im Spiegel der alten Szene dies als Kämpfe mit den Dämonen verstehen, dann werden sie akzeptabel. Dann dienten bzw. dienen sie der Selbst-Erkenntnis und der Selbst-Verwirklichung in Richtung „Ego-frei und zum Guten hin“.

 

Der zweite, zusätzliche Aspekt ist die inhaltliche Identität, die der Meister gefunden hat. Wenn nicht ich den Dämonen diene, sondern die Potentiale mir als Engel, wer bin dann ich? Zum Nachdenken über diese Frage bietet die Erzählung gewissermaßen Material an. Für die Christen ist der Meister, von dem wir reden, die denkbar vollkommenste Form, wie sich Göttliches und Menschliches in einer Person verbinden. Deshalb wird er zweifach benannt, von seinem „irdischen“ Ursprung her Jesus aus Nazareth, von seinem „himmlischen“ Qualität Jesus, der Christus. In einer der gegenwärtigen Sprachen ausgedrückt: Eine Person, die ganz im Ich ist und ganz im Selbst.[13]

 

Rückblick

 

Wir gingen aus von dem Phänomen, dass in gegenwärtiger therapeutischer Praxis Bildelement auftauchen können, die aus der Geschichte des Geistes bekannt sind. Wir haben dieses Phänomen an zwei Beispielen beschrieben und sind dabei der Frage nachgegangen, welche Bedeutung wir der Parallelität für das therapeutische Selbstverständnis und für den therapeutischen Prozess zu messen.

 

Die Antwort scheint einfach zu sein: Die gleiche Kraft, die in der Geistesgeschichte des Menschen den Aufbruch aus seiner Unmündigkeit (Kant nennt sie „selbstverschuldet“) hervorgebracht hat, formt und transformiert die in der Therapie ins Bewusstsein steigenden Bilder bzw. ist die Kraft, die die darunter liegenden Heilungsprozess in Gang setzt und ihm Richtung gibt. Sie ist unser eigentlicher Partner in der inneren Komposition unserer Klienten, wie immer wir sie um der Verständigung willen anreden: als inneres Wissen, als Seele, als inneren Meister, als das höhere Selbst oder anderes mehr. Keine dieser Bezeichnungen ist im Sinne der rationalen Logik zureichend. Alle sind symbolisch, d.h. weisen auf eine Wirklichkeit hin, die umfassender ist als unser Verstand. Ich habe mir erlaubt, Ihnen oben Einblick in Privates zu geben, nämlich dass ich meine Sitzungen nicht beginne, ohne mich selbst in „diese Kraft zu stellen“. Anrufung oder (in gottesdienstlichem Vokabular) Epiklese hatte ich den Vorgang genannt. Dieses Ritualelement ist Ausdruck, dass ich für die ganze kommende Sitzung diese Kraft in mir, in der Raumatmosphäre und im Klienten als den Partner der Heilung betrachte.

 

Die alten Symbole und symbolischen Sprachbilder haben dazu beigetragen, in der Seele des Menschen eine Richtungstruktur zu schaffen und sind selbst Ausdruck dieser Orientierung. Tauchen sie in der Therapie auf, gegebenenfalls auch nur in Bruchstücken, so zeigen sie an, dass möglicherweise etwas Vergleichbares geschieht, wie historischen im Prozess ihrer Entstehung, nämlich dass durch die Not hindurch, die der/die Klient/in mitbringt, eine mündige Selbst-Erkenntnis und Selbst-Verwirklichung ans Licht drängt. Trägt man auf der reflektierenden Ebene die alten Symbole, soweit sie einem vertraut sind, in ihrer vollen Form ins nachträgliche Gespräch ein, so können sie bestätigen und verfestigen, dass der/die Klient/in sich in eine neue Wirklichkeit hineingezogen gefühlt hat und fühlt.

 



[1] C.G. Jung, Vom Wesen der Träume: 1945; Ges. Werke 8, Olten 4. Auflage 1982, abgedruckt in: Das C.G. Jung Lesebuch, ausgewählt von Franz Alt, Olten1983, 3. Auflage 1984, Seite 64

[2] Unter dem Begriff des Yoga Nidra (übersetzt: der Schlaf des Yogi) wird in alter indische Tradition seelisches Geschehen auf einer symbolischen Ebene ins Bewusssein gebracht. Z.B.: Swami Satyananda Saraswati, Yoga Nidra, 5. Auflage 1985 Bhagalpur, Indien

[3] Als eines der ältesten Sinnbilder für Rüstungskonversion wurde „Schwerter zu Pflugscharen“ bekanntermaßen zu einem in Ost und West Menschen inspirierenden Symbol der Friedensbewegung der 80er Jahre.

[4] C.G. Jung: „Könnte man das Unbewußte personifizieren, so wäre es ein kollektiver Mensch, jenseits der geschlechtlichen Besonderheit, jenseits von Jugend und Alter, von Geburt und Tod, und würde über die annähernd unsterbliche menschliche Erfahrung von ein bis zwei Millionen Jahren verfügen. Dieser Mensch wäre schlechthin erhaben über den Wechsel der Zeiten. Gegenwart würde ihm ebensoviel bedeuten wie irgendein Jahr im hundertsten Jahrtausend vor Christi Geburt, er wäre ein Träumer säkularer Träume, und er wäre ein unvergleichlicher Prognosensteller auf Grund unermesslicher Erfahrung. Denn er hätte das Leben des einzelnen, der Familien, der Stämme und Völker unzählige Male erlebt und besäße den Rhythmus des Werdens, Blühens und Vergehens im lebendigsten inneren Gefühl.“ In: C.G. Jung, Das Grundproblem der gegenwärtigen Psychologie. Vortrag, Wien 1931; Ges. Werke 8, Olten 4. Auflage 1982, abgedruckt in: Franz Alt, Das C.G. Jung Lesebuch, Olten 3. Auflage 1984, S. 26

[5] Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. München, 3. Auflage 1952, S. 40.

[6] Karl Jaspers, a.a.O., Seite 21

[7] Homer um 800 v.Chr., Plato 427-347, die Propheten in Palästina 800-200, Zarathustra um 800, die Upanishaden 700-200, Buddha 563-483, Laotse *604, Konfuzius 551-479, Dschang Dsi 369-286(?).

[8] Also Symbole, Bildworte, Erzählungen, in denen sich auf tiefer Ebene Selbstzweifel in Zuversicht, Gebundensein in Autonomie, Versklavung in Freiheit, Ungerechtigkeit in Recht und Gerechtigkeit, Kriegselend in Frieden, und der Widersprüche zwischen Mensch und Mensch sowie zwischen Mensch und Natur in Einklang verwandeln. In theologischer Sprache ausgedrückt, sind es Konkretionen, wie „das Göttliche“ dahin drängt, sich, in der Person des einzelnen Menschen, in einem Volk, in der Geschichte und in der Natur zu verwirklichen. 

[9] An vielen Stellen in seinem Werk, u.a. in dem Kapitel „Ichwerdung und Wesen“ in Karlfried Graf Dürckheim. Vom doppleten Ursprung des Menschen, herder, Freiburg 17. Auflage 2003, S.49ff

[10] In spiritueller Sprache würde man über die oben gewählte sachlich-distanzierte Ausdruckweise hinaus gehend von einem Schatz „göttlichen“ Charakters oder von „dem Heiligen“ in der anderen Person sprechen und damit für die eigene Haltung noch emotionale Elemente wie Respekt, Staunen, Achtsamkeit,Ehrfurcht anklingen lassen. Theologisch-inhaltlich sind wir mit obiger sachlicher Beschreibung sehr nah an einer zentralen Formulierung der christlichen Tradition. Sie spricht von Gott oder dem Göttlichen als dem A und dem O (erster und letzter Buchstabe des griechischen Alphabets) aller Dinge und drückt damit aus, dass er bzw. es Anfang und Ende beinhalte. Jörg Zink hat einen modernen Dreizeiler formuliert, der diesen Charakter von Ursprung, Ziel und Transrationalität in fast Kultur übergreifender Sprache formuliert: Heilig bist Du, Ursprung der Welt. - Heilig bist Du, Ziel aller Wege. - Heilig bist Du, ewige Gegenwart. Als Lied vertont wurde der Dreizeiler von Hans-Jürgen Hufeisen. Quelle: Jörg Zink, Hans-Jürgen Hufeinsen, Wie wir feiern können, Kreuz Verlag, Stuttgart 1992.

[11] Die Zahl 40 ist in diesem Sinne fester Bestandteil in hebräischer und christlicher Tradition. 40 Jahre wandern die Israeliten durch die Wüste (2 Mose 16,35). 40 Tage verweilt Mose in der Gegenwart Gottes auf dem Berg Sinai und bringt von dort Weisungen für die Durchführung des Kultus und die Grundstandards für das soziale Miteinander (die 10 Gebote) mit zurück (2 Mose 24,18). 40 Tage wandert der Prophet Elias zum Berg Horeb, wo sich in der Begegnung mit einem Engel und mit Gottes Stimme sein neuer Auftrag einstellt (1 Kön 19,8), 40 Tage fastet Jesus in der Wüste (Mt 4,2; Lk 4,2). 40 Tage dauert die Fastenzeit von Aschermittwoch bis Ostern. 40 Tage nach Ostern feiert die Kirche Christi Himmelfahrt (Apg 1,3). 40 Tage ist in manchen katholischen Kulturen (z.B. auf den Philippinen) die Zeitspanne, in der man die Verstorben nach ihrem Tod auf ihrem weiteren Weg gedenkt.

 

[12] So die Erzählung bei Matthäus (Mt 4,11). Eine andere Variante der Erzählung (Mk 1,13) nennt noch als Detail, dass er in den 40 Tagen „bei den wilden Tieren lebte“, und Drewermann versteht dies als Hinweis, dass es bei der inneren Auseinandersetzung auch um die Klärung und Bewältigung animalischen Impulse und Instinkte ging. Eugen Drewermann: Schneewittchen. Die Zwei Brüder. Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet (dtv). München 2003, Seite 235

 

 

[13] Von daher kann Paulus in einer in sehr treffenden Formulierung nach seiner Bekehrung bzw. Erleuchtung sagen (Gal 2,20): Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.