Die heilende Kraft der Meditation

Pater Anselm Grün
Referat gehalten auf dem Kirchentag in Hamburg, Meditationszentrum im Gymnasium Klosterschule, im Rahmen eines interreligiösen Dialogs am 16. Juni 1995. Nach einer Tonbandaufzeichnung überarbeitet von Wolfgang Lenk.
 

Liebe Schwestern und Brüder,

 

in den sechziger Jahren habe ich auch versucht Zen-Meditation zu üben. Wir waren mit unserer Tradition im benediktinischen Mönchtum nicht zufrieden, weil uns vieles nicht richtig vermittelt worden ist. Dann, nach einigen Jahren der Übung, sind wir durch die Zen-Meditation und die eigenen Überlieferungen an die christlichen Quellen des frühen Mönchtums geraten.

 

Wenn ich jetzt von Meditation rede, möchte ich davon reden, wie sie seit dem 3. Jahrhundert im frühen Mönchtum geübt worden ist. So ist sie uns eigentlich auch überliefert worden. Aber leider waren die letzten 200 Jahre auch im Mönchstum keine Blütezeiten dieser Meditation. Wir mußten erst in die Schule des Ostens gehen, um die eigenen Quellen neu zu sehen und neu einüben zu können.

 

Es sind vor allem zwei Richtungen, die im Mönchtum. geübt worden sind: Das eine ist die "ruminatio" (lat. = wiederkäuen). Martin Luther benutzt das Wort auch, wenn er sagt, daß man das Wort Gottes wiederkäuen solle. Das andere ist die sogenannte "lectio divina" (lat. = göttliche Lesung) dh. das Lesen der heiligen Schrift. Beides sind heilende Wege. Ich möchte die heilende Bedeutung dieser beiden Wege kurz darlegen.

 

Diese Wege soll man jedoch nicht überfrachten und meinen, man könne mit Meditation alle Probleme lösen. Es wird ja manchmal versprochen, man brauche nur zu meditieren, dann hätte man keine Probleme mehr. Diese Verheißungen entsprechen nicht einem wirklichen Übungsweg. Manchmal wird da die Wirklichkeit unserer eigenen Psyche, die Wirklichkeit unserer Verletzungen aus der Kindheit, übersprungen, wenn man meint, man könnte nur durch Schweigen alles lösen. Die Amerikaner sprechen in diesem Zusammenhang von "spiritual bypassing", d.h. spirituelle Abkürzung. Damit ist der Versuch von Menschen gemeint, durch meditative Übungen der eigenen Wirklichkeit aus dem Wege zu gehen.

 

Die Mönche sprechen von "humilitas" (= Demut). Das ist nicht etwas Altmodisches, sondern es ist für mich ganz modern: Indem wir hinabsteigen, steigen wir auf zu Gott. Indem wir den Mut haben, hinab zu steigen in die eigene Wirklichkeit, in das eigene Schattenreich, in all das, was ich sonst nicht wahrhaben möchte bei mir, da steige ich auf zu Gott. Im Mönchtum geht der Weg zu Gott immer über die Selbstbegegnung. Evagrius Ponticus, der wichtigste Schriftsteller im. 4. Jahrhundert, sagt: "Willst Du Gott erkennen, lerne vorher dich selber kennen." Ohne diesen mühsamen Weg der Selbstbegegnung, der Begegnung mit den eigenen Leidenschaften, kann man nicht ungestört zu Gott beten. Ponticus spricht von den neun "logismoi". Dies griechische Wort bezeichnet Regungen der Seele, gefühlsbetonte Gedanken, die der betende Mensch gut kennen sollte. Wer das Enneagramm kennt, fühlt sich an die neun Typen oder Wurzelsünden des Menschen erinnert. Denen muß man sich stellen, damit man ungestört zu Gott beten kann. Das Ziel des Gebetes ist die Kontemplation, das Einswerden mit Gott. Aber der Weg dorthin ist die Selbstbegegnung, die Auseinandersetzung mit den eigenen Leidenschaften.

 

Ich möchte in aller Kürze diese beiden Wege anschauen:

 

Zunächst der Weg der "ruminatio" - das Wiederkäuen

 

Die frühen Mönche haben die ganze Heilige Schrift auswendig gelernt. Sie haben sie dann bei der Arbeit innerlich wiederholt. Für sie waren die negativen Gedanken, die auftauchen - wie Ärger, Wut, Eifersucht, Angst - durch die Heilige Schrift zu verwandeln und zu heilen. Die Alten verstanden die heilige Schrift als Heilungsbuch. Die Worte Gottes hatten für sie eine heilende Wirkung. Sie waren überzeugt: Der Mensch wird das, was er denkt. Wenn ich mich ständig mit negativen Gedanken beschäftige, werde ich davon beeinflußt. Aber dann spürten die Mönchedaß es zu unruhig ist, die ganze Heilige Schrift ständig zu wiederholen. Sie haben sich dann mehr und mehr auf einzelne Sätze beschränkt und eine Form der Meditation entwickelt, die auch in anderen Religionen üblich ist: das mantrische Beten, das Beten mit einem Wort (=Mantra), das auch mit dem Atem verbunden wird. Bei diesem Beten denkt man nicht nach über das Wort, sondern das Wort führt einen hinein in das "wortlose Geheimnis Gottes", wie es Isaak von Ninive nennt.

 

Hier gibt es nun wiederum zwei Wege:

 

Das eine ist der antirrhetische (gr. = Wider-Wort-)Weg und das zweite die Einwortmethode. Antirrhema, die Gegenwortmethode ist von Evagrius Ponticus beschrieben worden. Er hat in seinem Buch: 'Antirrhetikon' sechshundert Gedanken gesammelt, die einen krank machen können. Es sind Gedanken wie: "Keiner mag mich!", "Keiner kümmert sich um mich!", "Ich habe keine Lust! ", "Es ist alles so schwierig!", "Was soll das?".

 

Das sind Gedanken, die heute etwa die Transaktionsanalyse als Lebensskript beschreibt. Da gibt es z.B. das Verliererskript: "Bei mir geht alles schief" Man kann sich vorstellen, daß solche Gedanken einen krank machen können. Ich habe in einer psychosomatischen Klinik öfter Beichtgespräche geführt. Der Therapeut dieser Klinik erzählte mir von einem jungen Mann, von dem man gedacht hat: Der muß doch gesund werden. Er war sehr intelligent. Aber bei allem, was man mit ihm angefangen hat, hatte er zwei Sätze parat: "Das kann ich nicht!"; "Das bringt mir nichts!". Der Arzt hat zu ihm gesagt: "Deine Worte sind dein Leben, deine Worte machen dich krank."

 

Nun ist es interessant, wie Evagrius Schriftworte benutzt: Gegen solche krankmachenden Worte setzt er ein Wort aus der Heiligen Schrift. Auch die historische Schriftforschung zeigt, daß viele Bibelworte Bildworte sind, die den Menschen heilen.

 

Das ist etwas anderes als die "Macht des positiven Denkens", die ja in Amerika propagiert wird. Es ist ja durchaus sinnvoll, positiv zu denken. Aber man kann daraus leicht einen neuen Leistungsdruck machen, was dann dazu geführt hat, daß nun ein neues Buch geschrieben werden mußte: "Vom Recht, sich schlecht zu fühlen." Ich denke, ich muß nicht alles positiv sehen.

 

Die antirhetische Methode wirkt etwas anders. Evagrius nennt sie "Methode Davids", dem nach der Überlieferung Psalm 42,6 zugeschrieben wird. Dort teilt David seine Seele in zwei Teile: "Was bist du so betrübt meine Seele?" Das ist der Teil, der traurig ist. Der andere drückt sich aus in den Sätzen: "Harre auf Gott!" und .,Ich werde ihm noch danken..."

 

Diese beiden Bereiche bringt man in einen Dialog miteinander und auf einmal kommt man in Berührung mit dem Vertrauen, das in uns ist. C. G. Jung spricht davon, daß im Menschen immer zwei Pole bestehen: Es gibt keinen Menschen, der immer nur Angst hat, aber auch keinen, der nur Vertrauen hat. Wir sind oft fixiert auf die Angst. Die Angst drückt sich dann aus in Worten wie: "Das kann ich nicht", "Ich habe Angst", "Da blamiere ich mich", "Was denken die anderen von mir". In solche Worte und Gefühle hinein soll man den Psalm 118 sprechen: "Der Herr ist mit mir, ich fürchte mich nicht, was können Menschen mir antun?"

 

Vielleicht denken Sie: Das ist ein frommes Pflaster auf meine Probleme. Es geht jedoch nicht darum die Angst zu vertreiben. Aber wenn ich spreche: "Der Herr ist mit mir, ich fürchte mich nicht, was können Menschen mir antun?", dann wird das Wort mich in Berührung bringen mit dem Vertrauen, das schon in mir ist auf dem Grund meiner Seele. Die Frage ist dann: Was ist realistisch? Ist realistisch, wenn ich sage: "Ich habe Angst", oder wenn ich sage: "Der Herr ist mit mir, was können Menschen mir antun?" Das ist kein Trick, mit dem ich meine Probleme löse, sondern ich traue dem Wort Gottes zu, daß es meine Angst verwandelt in Vertrauen, daß es mich mitten in meiner Angst mit dem Vertrauen in Berührung bringt, das neben der Angst auch schon in mir ist. Im Blick auf den ‚logismos‘ der Traurigkeit empfiehlt Evagrius: "Wenn man sich vorsagt: "Ich bin falsch erzogen worden", "Es ist alles verkehrt", 'Ich bin voller Komplexe und die Kirche hat mich dazu noch krank gemacht", dann soll man dagegen halten: 2. Korinther 5, Vers 17: "Ist einer in Christus, ist er eine neue Schöpfung, das Alte ist vergangen, siehe es wurde neu". Dies ist wieder kein frommes Pflaster, das die Probleme nur wegschieben will. Sondern die Frage ist auch ist hier: Was ist die eigentliche Wirklichkeit? Meine Komplexe, Kirchenfrust oder sonst etwas Deprimierendes, oder die Ahnung: Christus ist in mir. Weil das wahr ist, ist in mir auch Kreativität; und da ist auch Lebendigkeit, da ist auch Phantasie in mir. Ich brauche damit nur in Berührung zu kommen, mit dieser Ebene meines Seins. Das Wort der Schrift möchte mich in Berührung bringen mit dieser Lebendigkeit in mir.

 

Die andere Methode ist das sogenannte Einwortgebet. Hierbei geht es nicht darum zu erkennen, was meine krankmachenden Gedanken sind. Ich konzentriere mich vielmehr auf einen einzigen Vers. Besonders beliebt war der Vers:" Oh Gott, komm mir zur Hilfe. Herr eile mir zu helfen". Cassian, ein Schüler des Evagrius, der ein Buch über die Unterredungen mit den Vätern geschrieben hat, schreibt, daß man dies Wort überall sagen soll: bei der Arbeit, wenn man schlafen geht oder spazierengeht, oder wenn man nichts tat. Allein dieses Wort hindert die negativen Gedanken zu uns zu kommen; es wehrt die "Feinde" ab, so sagt er; es sammelt den Geist; es heilt die Krankheiten. Und es spricht: "Setz dich hin zur Beschauung Gottes, zur höchsten Kontemplation."

 

Eigenartig ist, was eine so einfache Methode für eine Wirkung haben soll. Aber nicht die Methode hat die Wirkung, sondern die Methode ist nur der Weg, Gottes Wort Raum in mir zu gewähren, damit Gott mich heilen und verwandeln kann.

 

Im Osten ist vor allem das Jesusgebet beliebt geworden, das seit dem 4. Jahrhundert auch im Westen geübt wird. Es lautet: "Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner". Da wird genaue Anweisung gegeben, beim Einatmen "Herr Jesus Christus" zu sagen und sich vorzustellen wie der Atem ins Herz strömt, wie es warm wird, weil Christus in meinem Herzen ist. Deswegen wird es auchHerzensgebet genannt. Beim Ausatmen in den ganzen Leib soll man sagen: "Sohn Gottes, erbarme dich meiner." Für die Alten ist das die Zusammenfassung des ganzen Evangeliums: Es umfaßt den Glauben an die Menschwerdung, wie den Glauben an die Erlösung. "Erbarme dich meiner" ist der Ruf des Barthimäus, ihn von seiner Blindheit zu heilen. In diesem Jesusgebet liegt von vornherein die Bitte und Sehnsucht um Heilung. Es geht nicht darum, daß wir uns klein machen, uns als Sünder fühlen müssen. "Erbarme dich" = "eleison" im Griechischen, das hat im ursprünglichen Sprachsinn zu tun mit Liebkosung und Zärtlichkeit, mit Intimität, mit Nähe. Wenn ich das immer wieder sage: "Herr Jesu Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner", dann wächst so ein Stück Intimität zu ihm hin. Ich spüre: ich bin nicht allein, er ist bei mir und ich werde selber barmherziger mit mir umgehen. Sie kennen das alle, wenn Sie einen Fehler machen, daß Sie oft sich selbst zerfleischen: "Schon wieder ich", "Typisch!", "Du wirst es nie lernen". Sprechen sie dahinein: "Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner", dann kann es geschehen, daß sie mit der Zeit barmherziger mit sich umgehen und sich nicht verurteilen. Denn das darf auch sein, vor ihm darf auch mein Fehler sein. Das ist ein sehr menschlicher Weg.

 

Diesen Weg kann man wieder in zwei verschiedene Richtungen gehen: Einmal, indem ich das Jesusgebet hineinspreche in alles, was hochkommt. Sie müssen sich dann gar nicht konzentrieren. Dazu darf das ganze innere Chaos hochkommen. Nur denken sie nicht darüber nach, sondern sprechen dahinein: "Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner". Dann werde ich es mit anderen Augen anschauen, es wird die Macht verlieren, Ärger kann sich verwandeln. All das, was hochkommt, hat nicht mehr die Macht über mich.

 

Die zweite Methode ist, daß ich diese Gedanken weglasse. Man spricht davon, wie ein Berg zu sein, der die Gedanken wie eine Wolke wegfliegen läßt. Dann binde ich den Geist an das Wort, lege meine ganze Sehnsucht hinein und lasse mich von dem Wort hinführen zum "wortlosen Geheimnis Gottes". Isaak der Jüngere sagt: "Das Wort schließt die Türe auf zum wortlosen Geheimnis Gottes". Ich denke, da treffen sich wieder Zen-Meditation und Jesus-Gebet. Das Ziel ist das wortlose Geheimnis Gottes. In uns ist ein Raum, so sagen die Mönche. Evagrius nennt das den Ort Gottes, die Schau des Friedens, den Raum, wo Christus in mir ist. Es ist ein Raum voller Liebe und Barmherzigkeit; ein Raum, wo die Menschen keinen Zutritt haben mit ihren Erwartungen, mit ihren Wünschen und Ansprüchen; wo auch das eigene Überich mit seinen Verurteilungen, seinen inneren Antreibern. keinen Zutritt hat, sondern wo ich heil bin. Die transpersonelle Psychologie nennt das die Heihung durch Dis-Identifikation, indem ich die Idenfizierung aufgebe mit meinen Problemen und Wünschen. Das ist ein sehr menschlicher Weg.

 

Ich erlebe oft bei Christen so einen Leistungsweg, z.B. hat jemand Angst. Er sagt sich: "Ich vertraue zu wenig auf Gott; ich muß mehr beten, damit ich Gottvertrauen bekomme". Dann betet er mehr, hat immer noch Angst und macht sich wieder Vorwürfe, daß er zu wenig Vertrauen hat, er betet noch mehr, hat immer noch Angst. Das ist so eine Hochleistungsspirale, wo man immer mehr betet und sich immer mehr Vorwürfe macht. Dieser Weg ist barmherziger: die Angst darf sein, die Empfindlichkeit im emotionalen Bereich kann immer noch dasein. Aber mit diesem Gebet komme ich in einen Raum jenseits der Angst. Dort hat die Angst keinen Zutritt. Ich bin ein Stück befreit. Ich bin daheim bei mir.

 

L Hookendale, ein transpersonaler Psychologe, sagte einmal: Wir suchen die Lösung unserer Probleme außen, in besseren Methoden der Kommunikation. Das sei wohl richtig. Aber er meint, wir seien verdammt, außen herumzuirren, solange wir außen die Lösung suchen. Die wahre Lösung ist innen, in der inneren Heimat, dort wo Gott in uns wohnt, wo Christus in uns wohnt als der Barmherzige. Wo es schon heil ist in uns.

 

Aber wichtig ist: Man gelangt an diesen Ort nicht an der eigenen Wirklichkeit vorbei. Ich habe eine Schwester begleitet, die konnte bei der Meditation nur im oberen Brustraum atmen. Da ging es nicht allein um eine neue Atemform, sie mußte erst die ganze Wut zulassen. Der Atem verbindet ja Kopf, Herz und Bauch, Denken und Fühlen, Vitalität und Sexualität. Sie mußte erst die Wut, die Aggression zulassen und sich damit auseinandersetzen, dann ging der Atem weiter. Dann mußte sie sich mit ihrer Vitalität und Sexualiät auseinandersetzen und dann spürte sie, daß der Atem bis in den Beckenraum gelangte und sie in Berührung kam mit der inneren Quelle. Der Weg zu diesem Raum der Stille führt durch die Wirklichkeit, durch die Wut, durch die Leidenschaften hindurch und nicht an ihnen vorbei.

 

Das wäre der erste Weg, die "ruminatio". Wichtig ist, daß wir den Weg der "ruminatio" nicht als Trick benutzen. mit dem wir alle Probleme lösen können. Es gibt Verletzungen, die man richtig anschauen muß. Die Therapie ist eine wichtige Hilfe, daß manche Blockaden gelöst werden. Von Antonius, dem ersten Mönch, stammt das Wort: "Wenn du einen jungen Mann siehst, der zu schnell zum Himmel stürmt, dann ziehe ihn an der Ferse und stelle ihn wieder auf den Boden. Das tut uns nicht gut, wie Ikarus Himmelsstümer zu sein. Wir steigen zu Gott empor durch die "humilitas" (= Demut), den Mut hinabzusteigen. Sie kennen die Geschichte von der Heilung des Blindgeborenen, wo Jesus Dreck in die Augen schmiert und damit sagt: Du kannst nur sehen, wenn du bereit bist, dich auszusöhnen mit dem Dreck in dir. Du bist auch von der Erde genommen. Söhne dich aus mit dem "humus" (lat.=Erde), mit deiner humilitas (lat. = Demut in Sinne von Erdhaftigkeit).

 

Der zweite Weg der christlichen Meditation ist die sogenannte "lectio divina",

 

die göttliche Lesung, die Lesung der Heiligen Schrift. Die lectio divina umfaßt vier Schritte: lectio, meditatio, oratio, contemplatio. Das ist die klassische Gebetsform seit dem fünften Jahrhundert. Der heilige Benedict hat uns drei Stunden pro Tag dafür reserviert. Leider haben wir nicht immer so viel Zeit. Auch hier ist das Ziel die contemplatio.

 

Lectio heißt: Ich lese Heilige Schrift, aber nicht um mein Wissen zu erweitern, nicht um Exegese zu studieren, sondern ich lese, um im Wort der Schrift Gottes Wort und Gottes Herz zu entdecken. Ich lese, um Gott zu begegnen und um mich selber anders zu sehen und anders zu verstehen. Die Alten sind der mystischen Schriftauslegung des Origenes verpflichtet, der sagt: Die Schrift hat einen geistigen Sinn und in ihr entdecke ich Gott selber und begegne mir auf neue Weise. Ein klassisches Wort für diese Schriftauslegung und den Umgang mit der Schrift in der lectio divina stammt von Augustinus, der sagt: "Das Wort Gottes ist der Gegner deines Willens, solange du dein eigener Feind bist. Sei dein eigener Freund, dann ist das Wort Gottes mit dir im Einklang".

 

Wir verstehen oft die Schrift nicht richtig, weil wir uns selbst falsch verstehen, weil wir ein falsches Selbstverständis haben. Wir haben vielleicht das Selbstverständnis des perfekten Menschen: wir erwarten von uns selbst, daß wir in jeder Weise perfekt sein müßten. Wenn man mit diesem perfekten Menschenbild Schrift liest, bekommt man ständig ein schlechtes Gewissen. Ich muß Schrift so verstehen, daß ich freundlich mit mir umgehe. Ich verstehe Schrift nur richtig, wenn ich mein eigener Freund werde. Und zugleich gilt: Schriftauslegung, Schriftmeditation bringt mich dazu, daß ich freundlich mit nur umgehe. Es ist auch heute eine Erfahrung, daß manche Christen sehr hart und sehr brutal mit sich umgehen, mit Gewalt ihre Fehler beherrschen wollen und dann sehr brutal auch mit anderen umgehen. Die Brutalität der Frommen ist sprichwörtlich geworden.

 

Ich denke, dieser Weg der lectio ist ein sanfterer Weg. Ich versuche, mich, so wie ich bin, mit der Schrift zu konfrontieren, die Schrift zu lesen. Wenn ich die Schrift verstehe, verstehe ich mich besser; verstehe, wie ich von Gott her gemeint bin. Die Alten sagen: Das Lesen weckt die Sehnsucht. Die meditatio ist dann der Weg, innezuhalten: Ich habe das Wort gelesen, wiederhole es, verweile dabei, versuche es zu schmecken und mit dem Herzen zu spüren. Die oratio ist dann das affektive Gebet, mit dem ich Gott bitte, diese Sehnsucht zu erfüllen. Die contemplatio ist dann das Beten ohne Worte. Als Methode, sagen die Alten, kann ich nur die ersten drei Schritte üben, lectio, meditatio, oratio. Contemplatio ist immer ein Geschenk.

 

Das geht so: Ich lese in der Schrift, bis mich das Wort anrührt, halte inne, lasse es ins Herz fallen, bete, lese weiter, bis ich das Gefühl habe, die Worte haben mich in eine tiefe Stille geführt. Dann lasse ich die Worte und bin einfach still vor Gott. Die Worte haben mich in die Stille geführt.

 

Contemplatio heißt, daß ich nicht über etwas nachdenke, sondern contemplatio ist Ahnung: Auf einmal ist alles klar. Ich sehe nicht etwas Bestimmtes, ich blicke durch. Contemplatio heißt. in absoluter Zustimmung zu sein, obwohl vieles durcheinander ist in mir. An diesem Ort des Betens spüre ich: Es ist alles gut. Der wirklich kontemplative Mensch sagt: es darf alles so sein. wie es ist. Das meint comtemplatio, und es ist immer auch ein Geschenk.

 

Dieser Weg der lectio divina führt uns mehr und mehr dazu, daß wir uns so sehen wie Gott selber uns sieht; daß wir uns nicht so hart beurteilen, wie das im perfekten Selbstverständis geschieht. Viele Krankheiten entstehen ja durch Spaltungen, weil wir etwas nicht zulassen.

 

Beide Wege im Mönchstum, die ruminatio wie die lectio, gehen davon aus, daß alles sein darf. Nur ist es wichtig, daß wir alles, was in uns ist, auch was wir für uns oft nicht annehmen können, in einer Beziehung zu Gott halten, daß wir das Wort dahinein wirken lassen, damit Gottes Wort es verwandeln kann.

 

Die Alten haben Bilder für die lectio devina. Sie sagen: die lectio bricht das Alabastergefäß Gottes auseinander, die meditatio riecht daran, empfindet den Duft, die oratio drückt die Sehnsucht aus und die contemplatio genießt es dann.

 

Ich möchte zum Schluß kommen. Evagrius Ponticus sagt einmal: "Wer für eine Methode kämpft, der kämpft vergebens". Die frühen Mönche haben deswegen Wege der Meditation und Kontemplation entwickelt, auf denen nicht die Methode heilt und sondern immer der heilende Gott, der durch das Wort der Schrift uns begegnet. Aber wir brauchen Wege, um dieses Wort überhaupt in uns eindringen zu lassen. Für Evagrius ist klar; die Askese allein - der Umgang mit den Leidenschaften allein - kann uns nicht heilen; der kann zur sogenannten "apatheia" führen, d1.h. einem Zustand, in dem wir frei sind vom pathologischen Verhaftetsein an die Leidenschaften, in dem wir die Kraft aus den Leidenschaften für unsere Leben herausziehen können. Aber die eigentliche Heilung geschieht in der contemplatio, wo Gottes Geist in die Tiefen der Seele, in die Tiefe der in unserem Unbewußten lebenden Bilder einzudringen und zu heilen vermag. In diesem Raum der contemplatio übersteigen wir die Zerrissenheit unserer Seele. Sie wird nicht aufgelöst. Wir werden sie immer wieder erleben, aber sie wird relativiert, weil mitten in unserer Zerrissenheit dies der Raum der Stille ist, wo es in uns schon heil ist und wo wir bereits frei sind. Dort erleben wir Gott immer als den befreienden Gott, als den Exodus-Gott, der herausführt aus inneren Gefangenschaften und der befreit von der Macht der Menschen. Wir erleben ihn als Gott, der von den Erwartungen, von Be- und Verurteilungen befreit, aber auch von Verletzungen. In diesem innersten Raum kann mich niemand verletzen.

 

Ich habe einige Kurse gehalten für Psychologen und Erziehungsberater der Caritas. Da ging es um Beratung und Spiritualität. Sie haben erst ein wenig Angst gehabt: der will uns jetzt auf fromm trimmen, weil er von der Kirche kommt. Aber dann spürten sie: Spiritualität heißt nicht, fromme Worte machen, sondern die Menschen in ihre unantastbare Würde führen, wo Gott in uns ist, wo wir in Berührung kommen mit dem eigentlichen Bild, das Gott sich von uns gemacht hat. Das Ziel des geistigen Weges ist für die Mönche, daß jeder mit dem unberührten Gottbild in Berührung kommt, das Gott sich von ihm gemacht hat. Thomas von Aquin sagt einmal: "Jeder Mensch ist ein einzigartiger Ausdruck Gottes und die Welt wäre ärmer, wenn nicht jeder von uns in einzigartiger Weise Gott ausdrücken würde". Aber wir sind oft von anderen Bildern geprägt, von Bildern, die uns andere übergestülpt haben.

 

Unsere Lebensaufgabe ist, uns von den vielerlei Bildern zu befreien, die unser Leben überfremden, und unseren ursprünglichen göttlichen Wesensbild zu entsprechen. Evagrius sagt es so: "Höre nicht auf, dein Bild umzugestalten. damit es dem Archetyp ähnlicher werde." Höre nicht auf, Gott in die Tiefen deines Geistes und deiner Seele, die bewußten und die unbewußten Bereiche, hineinleuchten zu lassen, damit er dich immer wieder zu dem Bild formt, zu dem er dich haben möchte: diesem einzigartigen Ausdruck Gottes, diesem einmaligen Bild, das jeder von Ihnen ist, dem einmaligen Bild Jesu Christi.

 

Die Welt wäre armer, wenn nicht jeder von uns dieses einmalige Bild Christi in unserer Welt zur Darstellung brächte.